Horstenau/Berichte
Traute Steidl, geb. Lengtat, erzählt von ihren Jahren 1945 bis 1948:
Verlorener Himmel über Horstenau – meine Erinnerungen
Meine ersten 8 Jahre erlebte ich, wie viele Kinder in dieser Zeit, arbeitsam inmitten des Ortes in Horstenau und besuchte die Schule in unserer Nähe. Leider verstarb meine Mutter nach 12-jährigem Leiden, und mein Vater musste trotz schwerer Verwundung und der familiären Situation weiter bei der fahrenden Infanterie dienen.
Am Abend des 19. Januar 1945 begann unsere Flucht. Auf unserem Wagen saßen meine 89-jährige Oma, die Schwester meines Vaters, meine Schwester Annemarie und ich. Da wir nur ein Pferd besaßen, gab uns der Großvater mütterlicherseits noch ein Pferd. Die Stute war hoch tragend. Unseren Wagen lenkte „Opa“ Adler, ein Nachbar. Seinen Wagen fuhr der Fremdarbeiter Theodor, der mit unserer Fremdarbeiterin Nina befreundet war. Beide waren Polen. Die Fahrt ging in Richtung Oberförsterei, da die Chaussee für das Militär frei gehalten werden musste, denn im 12 km entfernten Aulenbach war bereits die Rote Armee. Wir hörten das Heulen der Geschütze und sahen hellen Feuerschein. Bereits an der Kreuzung Höhe Oberförsterei wurde unser Gefährt infolge der Hektik und Dunkelheit angefahren. Das führte zum Bruch der Deichsel. Wir schlugen uns provisorisch bis Wirbeln durch und erhielten eine neue Deichsel. Unsere Oma war seit dem Aufsteigen auf den Wagen nicht mehr bei Bewusstsein. Die Fahrt ging durch Militär, Schnee und Kälte nur langsam voran. In Taplacken kam es dann zur Notfohlung. Mit der Stute war eine Weiterfahrt nicht möglich, aber es gab bereits herrenlose Pferde. Kamen wir abends irgendwo an, hatten wir kaum eine Chance, eine Unterkunft zu erhalten. Schon allein Oma vom Wagen zu heben, war sehr beschwerlich. Wenn es hilfsbereite Menschen gab, erhielten wir im Pferde- oder Kuhstall eine Unterkunft.
Eines Tages erzählte eine fremde Flüchtlingsfrau meiner Tante, sie hätte auf einem vorbeifahrenden Militärtransport ihren Mann gesehen. Drei Tage durfte er uns auf dem Treck begleiten.
Ein paar Tage später, es war in der Nähe von Preußisch Eylau, kam eine Militärkolonne. Wir mussten – wie fast immer – in den Chausseegraben ausweichen, um dem Militär Vorfahrt zu gewähren. Vier, fünf Wagen aus Horstenau standen noch beisammen, da kam vom letzten Wagen jemand gelaufen und rief: “Der Lengtat kommt vorbei!“ Es war wirklich unser Vater! Es ist mir bis heute nicht klar, warum mein Vater, besonders auch nach seiner Verwundung 1943, mit einer pflegebedürftigen, teilweise bettlägerigen Ehefrau, einer hoch betagten Mutter, zwei kleinen Kindern und einem Bauernhof beim Militär bleiben musste. Vater fuhr allein einen Pferdewagen und so konnte er uns nur zuwinken. Das war auch das letzte Mal, dass wir unseren Vater sahen; er ist nicht wieder gekommen…
Weiter ging der Treck in Richtung Heiligenbeil in der Nähe zum Frischen Haff. Wir wurden auf einen großen Platz eingewiesen und trafen dort den Ehemann der jüngsten Schwester von Tante Martha; er war noch zum Volkssturm eingezogen worden. Angehörige der Feldgendarmerie („Kettenhunde“ genannt) überwachten dort die Anweisung, überflüssiges Gepäck vom Wagen abzuwerfen, um weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Anschließend fuhren wir auf dem zugefrorenen Frischen Haff in Richtung Pillau. In Pillau wurde, wie so oft, im Freien gekocht. Dabei ging das Gerücht um, dass Alte, Frauen und Kinder auch mit dem Schiff gen Westen fahren könnten. Da unsere Oma kaum transportfähig war und „Oma“ und „Opa“ Adler die Wagen mit den Pferden nicht aufgeben wollten, schließlich wollten sie ja bald wieder nach Hause, fuhren wir mit unseren Gespannen weiter.
Unser gutes Pferd Moritz war schon sehr müde, schwach und alt und trotzdem bewahrte es uns vor dem Ertrinken. Auf dem Haff erlebten wir immer wieder angreifende Tiefflieger und Bombenabwürfe. Da wir auch nachts fahren mussten, ging immer eine Person vor dem Gespann, um das Eis zu kontrollieren. Dabei geriet Moritz auf ein gesunkenes Gespann, warf sich seitlich auf das Eis und bewahrte uns vor dem Sinken. Schweren Herzens mussten wir ihn zurücklassen, es gab viele herrenlose Pferde und Moritz war auch am Ende seiner Kraft. Ich habe noch viel um meinen Moritz geweint, aber der Überlebenskampf war übermächtig. Auf einem Ort der Nehrung gewährte uns eine mildtätige Frau Unterkunft und bot meiner Tante Milch an. Ich habe so gern in Horstenau Milch getrunken. „Traute, heute habe ich Milch bekommen“, klang für mich wie eine Freudennachricht. Doch beim Trinken spürte ich einen fremden Geschmack. Es war Ziegenmilch; ich habe sie trotzdem getrunken.
Unterwegs habe ich viele Tote gesehen, erfroren auf dem Wagen oder durch Beschuss getötet. Eindringlich erinnere ich mich an das Bild, als die Feldgendarmerie einen Fahnenflüchtigen gefasst hatte. Er musste auf eine große Pappe schreiben: „Ich war zu feige, fürs Vaterland zu kämpfen.“ Dann wurde er erschossen. Andere wurden als Abschreckung aufgehängt, es waren keine Einzelfälle!
Die Fahrt ging weiter, und die Eisschmelze begann. Es bildeten sich bereits Wasserschichten. Als wir endlich vom Eis durften, war das Eis schon recht brüchig. Der erste Ort, den wir nach Verlassen des Haffs erreichten, war Stutthof. Während an anderen Orten die Mitmenschen sehr gleichgültig waren, halfen uns hier sofort Leute, um Oma vom Wagen zu tragen. Bei einbrechender Dunkelheit durfte niemand mehr auf den Fahrzeugen sein, und das wurde streng kontrolliert. (Bei einem späteren Urlaub in Polen in den 80-iger Jahren erfuhren wir erst von dem damaligen Konzentrationslager in dieser Gegend).
Nun mussten wir auf vom Militär und Flüchtlingen verstopften Straßen weiter fahren, und immer wieder beschossen uns Tiefflieger. In Dirschau sind wir über die Weichsel gefahren. Die Weichselbrücke war noch nicht gesprengt, wir hatten Glück. Dann waren wir, wie es damals hieß, im polnischen Korridor in der Nähe der Bahnstrecke Neustadt/Lauenburg in dem Ort Kamenz. Hier war die Fahrt mit dem Pferdewagen zu Ende; es muss so Ende Februar gewesen sein.
Wir wurden bei einer polnischen Frau mit vielen Kindern in einem einfachen Haus, das wir zu Hause Insthaus nannten, untergebracht. Für Oma gab es noch ein Bett, während wir alle auf dem Fußboden schliefen.
Am 12. März 1945 waren dann die Russen da!
Der erste Tag war noch ganz friedlich. Wir und auch Oma wurden nicht belästigt. Am Abend war das Zimmer voller Russen, und wir schliefen alle dicht gedrängt auf dem Fußboden. In der Nacht vom 12. zum 13. März 1945 verstarb dann unsere Oma. Es war für sie und auch für uns eine große Erleichterung. Sie schlief recht friedlich ein. Nur ein Russe hat das noch bemerkt, aber auch er hat sich ruhig verhalten. Am 13. März haben wir in Großposchol so gut es eben ging unsere Oma in der noch gefrorenen Erde beigesetzt. Sie war in ihrem Mantel und Bettlaken eingehüllt. Wir waren erleichtert, sie beigesetzt zu haben, denn ich hatte viele Verstorbene unbestattet in
Chausseegräben gesehen.
Am Abend begannen die Russen, mit viel Wodka ihren Sieg zu feiern, und auch Opa Adler musste mittrinken. Die Russen sagten etwas, und er musste immer „Da, Da“ - „Ja“ sagen, dann sollte er hinaus gehen und erschossen werden. Da Oma Adler ihn fest umarmte, sollten wir nun alle vor die Tür und erschossen werden. Dank der Trunkenheit der Russen konnten wir aber entkommen und versteckten uns im Hühnerstall. Am Morgen des 14. März verriet uns die polnische Inhaberin, dass die Russen noch ihren Rausch ausschliefen, und wir fliehen sollten. Wir nahmen ein paar Sachen und gingen los - wohin wusste keiner. Zunächst gingen wir durch den Ort und dann in den Wald. Dort verbrachten wir drei Tage. Endlich war der Schnee geschmolzen. Doch wir hatten fürchterlichen Durst und wollten weiter. Als wir später aus dem Wald traten, sahen wir in der Ferne ein größeres Grundstück. Das Anwesen war eine Wassermühle. Es lag an der Bahnstrecke nach Lauenburg etwa noch 12 km entfernt, und wir trafen viele weitere Flüchtlinge an, sicherlich weil es außerhalb des polnischen Korridors lag. Auch hier hatten bereits Russen den Altbesitzer und einen weiteren Mann erschossen.
Es muss so Mitte April gewesen sein, da kamen Polen und forderten uns zum Verlassen auf. Nur die Besitzerin, ihr Sohn und die Schwiegertochter durften bleiben. Auf der anderen Seite der Bahnstrecke stand ein leeres Bahnwärterhaus, dort zogen wir mit den verbliebenen Flüchtlingen ein.
Opa Adler wurde unruhig und meinte: „Wenn die Polen hier schon einziehen, dann wird der polnische Korridor wieder abgeriegelt. Wir müssen deshalb schnell nach Hause.“
Es war der 8. oder 9. Mai, als wir den Heimweg antraten. Keiner ahnte etwas von dem weiteren Schicksal unserer Heimat. Opa Adler hatte aus Resten einen Handwagen gebastelt, auf den wurden die verbliebenen Habseligkeiten aufgeladen, und los ging es. Eine Karte gab es nicht, aber Opa Adler hatte von seiner früheren Wanderschaft einen ausgeprägten Orientierungssinn. Er vermied größere Städte, und die Russen haben uns verhältnismäßig wenig belästigt. Ihr Trachten galt „Uhri, Uhri“ und Schmuck. Von der Halbinsel Hela kamen deutsche Kriegsgefangene unter Bewachung. Mit ihnen sind wir zwei Tage mitgelaufen und staubten etwas Verpflegung ab.
Adlers hörten von Kriegsgefangenen, dass auch ein Sohn von ihnen in der Kolonne ist, gesehen haben wir ihn allerdings nicht. Die Soldaten mussten schneller laufen, aber ich mit meinen 9 Jahren konnte nicht mehr, und wir ließen die Kolonne ziehen. Auch Opa Adler trieb uns immer wieder zum schnellen Tempo an, denn er wollte zu Hause endlich die Kartoffeln pflanzen. Das werde ich nie, nie vergessen.
Nun war in Dirschau die Brücke über die Weichsel zerstört. Uns gelang eine Überfahrt mit einem provisorischen Floß. Es gab viele weitere heikle Situationen auf dem Heimweg und bei den „Durchsuchungen“ wurde unser Handwagen immer leichter. Abends schliefen wir meist in Scheunen oder leeren Ställen, Häuser wurden immer wieder von Russen aufgesucht.
Die letzte Nacht haben wir in Norkitten geschlafen. Den nächsten Tag sind wir dann bis Horstenau gelaufen. Opa Adler sagte, er wolle nicht von Pagelienen an der Gärtnerei und bei Schulz vorbei, sondern lief noch den Bogen bis zum Kiesweg. Von der Chaussee konnte man sehen, welche Häuser noch standen. Adlers leider nicht, aber unser Haus. Wir waren in einem anderen Horstenau angekommen. Wir zählten zu den Letzten, die wieder in Horstenau eintrafen. Für das Pflanzen der Kartoffeln war es zu spät. Es war Mitte Juni. Nun empfanden wir erst richtig Hunger und Angst, obwohl wir „daheim“ waren. An alle Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber einige sind mir im Gedächtnis geblieben. Frau Burbat mit 5 Kindern, Frau Korinth mit drei Kindern, Frau Szagun mit Vater und Tochter, das Ehepaar Nolde mit Sohn Fritzche, Ehepaar Lemke, Frau und Herr Hecht. Frau Gibson hatte auf der Flucht ihre Kinder verloren, Frau Eckert, Lotte Schankat, das Ehepaar Lubinski mit Tochter Frieda, deren Sohn auf dem Pferdewagen erfroren war. Ich glaube auch Ehepaar Schakneis und Ehepaar Berg waren noch da. Unser Leben war von Überfällen der Russen und Nahrungsbeschaffung geprägt. Wir waren in Horstenau vogelfrei, denn es hat sich niemand um uns gekümmert. Wir wurden auch nicht namentlich erfasst. Da im Herbst 1944 noch das Wintergetreide ausgebracht wurde, konnten wir nun etwas ernten. Mit Karren und Handwagen haben wir das Getreide in Scheunen gebracht und mit Dreschflegeln Korn gewonnen. Da die Russen aber zu häufigen „Besuchen“ erschienen, galt bei ihnen „Zapzarap“, das heißt stehlen. Auch die Mäuse und Ratten hatten Hunger, der Rest war für uns.
Dann kam eine Russeneinheit. Sie zogen in unser Haus. Wir hatten ein Tomatenfeld anzulegen. Die Arbeit und das Bewachen wurde von unseren Leuten verrichtet. Sie hatten auch darüber zu wachen, dass andere Russen nicht klauen. Die Bezahlung war gleich Null. Viele von uns gingen in den Wald, um Maiglöckchen, Beeren und Pilze zu sammeln. Nach dem Fußmarsch bis Insterburg tauschten wir unsere Produkte gegen lebensnotwendige Sachen, doch oft mussten wir auch Raub hinnehmen. Alle Heimgekehrten suchten in den leer stehenden Häusern nach Verwertbarem und boten auch diese Sachen auf dem Basar auf dem freien Platz in der Hindenburgstraße und dann später auf dem Neuen Markt an.
Die Russeneinheit blieb etwa ein Viertel Jahr. Die neue Einheit richtete in Herings Haus eine Wäscherei und Sauna ein. Das restliche Dorf verfiel zunehmend im Kern und Außenbereich. Nur die Häuser entlang der Chaussee wurden verschont.
In Georgenburg wurde ein Kriegsgefangenen-Lager im ehemaligen Gestüt als Durchgangsstation für den Transport der Gefangenen nach Russland unterhalten und in der Burg war eine Krankenstation. Bis zu Dreißigtausend Kriegsgefangene lebten auf engstem Raum. Dann wurde angeordnet, dass ein Sommerlager wegen der Überfüllung der Burg zu errichten ist. Im Wald Forst Neuteich wurde aus dem Holz leerstehender Gebäude im Umfeld ein Barackenlager errichtet. Aus den verbliebenen Grundmauern der Gebäude sah ich vor der Abreise 1948 bereits Birken und Pappeln sprießen. Eine Russeneinheit hatte in Georgenburg eine Sowchose eingerichtet. Dort arbeiteten vor allem Kriegsgefangene in der Feldarbeit und der Viehzucht. Die Gefangenen hatten Mitleid mit uns und unterstützten uns. Wir mussten erleben, wie Tausende von ihnen verstarben und in Panzergräben mit Branntkalk bedeckt wurden.
In Horstenau verstarben das Ehepaar Nolde und Frau Gibson. Die Russen erschossen die Eltern von Frieda Stiemer. Sohn Heinz Nolde war etwa acht oder neun Jahre und sollte mit Oma Adler nach Insterburg mitgehen. Sie waren erst eine kurze Strecke gelaufen, da weinte der Junge bitterlich vor Hunger. Oma Adler schickte ihn zurück, doch er ist nicht wieder in Horstenau angekommen. Vermutlich wurde er ein „Russenkind“.
In Horstenau blieben wir vernachlässigt, deshalb zogen Adlers, meine Tante und meine Schwester mit mir ohne Erlaubnis nach Insterburg.
In der Dobeneck Gasse, im letzten Haus am Schützenpark, sind wir untergekommen. Auch in Insterburg gab es keine Verpflegung und der Hunger war allgegenwärtig. Deshalb liefen wir wieder nach Georgenburg, um auf den abgeernteten Kohlfeldern noch Reste von gefrorenem Kohl zu finden (1946/47). Früh, mittags und abends gab es Kohlsuppe, mal mit einer geriebenen Kartoffel, mal mit etwas Brot, mal ohne alles.
Meine Tante schickte mich dann zur Schule, damit wir zu Lebensmittelkarten kamen. Sie arbeitete mit meiner Schwester in einem Keller am Pregeltor. Sie sortierten Kartoffeln und wagten immer wieder eine kleine Mitnahme. In der Schule wurde die deutsche Sprache ignoriert. Der Unterricht erfolgte nur in Russisch.
Im Sommer 1948 wurden wir in der Nacht von Russen geweckt, die unsere Personalien aufnahmen. Wir wussten nicht warum und wozu. Dann mussten wir zum Krankenhaus am Wasserturm, wurden etwas untersucht und bekamen eine Spritze in den Rücken.
Es verging eine gewisse Zeit, und wir bekamen russische Papiere. Am 1. September 1948 sollten wir uns am Bahnhof in Insterburg einfinden. Am Bahnhof waren viele Deutsche aus umliegenden Orten versammelt. Auf Viehwagen fuhren wir bis Königsberg. Vor dem Umsteigen in einen Personenzug wurden wir nochmals nach Wertsachen kontrolliert, und es begann die Fahrt gen Westen. Nach der Ankunft in Pasewalk kamen wir in die Quarantänestation Küchensee/Storkow.
Das Ehepaar Adler wurde von seiner Tochter nach Berlin geholt. In Egsdorf bei Teupitz erhielten wir Drei einen Raum mit zwei Betten, drei Stühlen, einem Tisch und einer kleinen Kommode. Die Glühbirne an der Decke fehlte. Das Zimmer, die Verhältnisse und der Himmel waren dunkel über uns...
Traute Steidl
1946 - Erinnerungen an Horstenau und Insterburg
Wir "Rückkehrer" nach Horstenau waren nicht interniert sondern "vogelfrei". Oft sind wir nach Insterburg gelaufen, welches 8 km südlich von Horstenau lag. Ohne Behinderung konnten wir die Stadt betreten. Wer sollte uns die Erlaubnis geben? Wir liefen in die Stadt, um Sachen auf dem Basar (Markt) zu verkaufen oder zu tauschen: Blumen, Beeren, Pilze oder Dinge, die wir noch in den leer stehenden Häusern gefunden hatten - es ging ums Überleben.
Sommer 1946: Um nicht zu verhungern, sind die Eheleute Adler, meine Tante, meine Schwester und ich nach Insterburg in die Dobeneckgasse im letzten Haus eingezogen. Das Haus hatte zwei Eingänge mit zwei Fremden, und wir waren 7 Personen in einem Raum. Das Haus ist nicht mehr vorhanden. 1991 beim Rundgang habe ich festgestellt, dass dort ein neues Haus errichtet worden ist.
Nun habe ich ja schon erzählt, dass wir zum Basar gelaufen sind. Der erste Basar war in der Hindenburgstraße an der katholischen Kirche. Dann wurde am Neuen Markt die Markthalle eröffnet und auch das Gelände außen als Basar genutzt - bis zum heutigen Tag. Das Gesellschaftshaus war nun "Haus der Offiziere" und mit einem hohen Drahtzaun im Schützenpark abgesichert. Im ehemalige Mädchen-Gymnasium in der Forchestraße war nun die Post - bis heute.
Es kam auch Post aus dem "Reich", aber es erfolgte keine Zustellung - auch nicht in die Dörfer des Umfeldes. Die Post wurde zu damaliger Zeit in einem Raum, der immer offen war, auf einen Tisch gelegt, und alle Deutschen suchten die Briefe, die für sie bestimmt waren. Als der Tisch zu klein wurde, wurde der Fußboden genutzt. Wir konnten auch Briefe schreiben, und die Post ist auch in Deutschland angekommen.
An der Ecke Forchestraße/Wilhelmstraße war ein Magazin - auch heute noch. Dort hat man hin und wieder Brot kaufen können.
Auf Nahrungssuche sind wir auch nach Georgenburg (2,5 km nördl. v. Insterburg) gelaufen, um auf den abgeernteten Kohlfeldern noch Reste zu finden.
Traute Steidl
1948 - Eine Ausreisegeschichte
Unsere "Scheinschwester"
Über meine Erlebnisse nach der Flucht und Rückkehr nach Horstenau und Insterburg 1945 habe ich in obigem Beitrag "Verlorener Himmel über Horstenau – meine Erinnerungen" berichtet.
1948 lebten auch ehemalige Bewohner von Horstenau in Insterburg, da dort ein gewisser Grad von Verwaltung und neuem Leben begann (Schule, Marken, Arbeit, Handel). In dieser Zeit geb es keine längerfristige, verlässlichen Informationen, was uns verbliebene Deutsche betraf. Wir kümmerten uns vor allem um das eigene Überleben.
Frau Korinth mit ihren drei Kinrn Marlene, Waltraut und Günter sowie Frau Schacknies wohnten zu der Zeit in Birken.
Neben Oma und Opa Adler hielten meine Schwester Annemarie und ich Kontakt zu Frau Korinth. Frau Schacknies und Marlene Korinth hielten sich vielfach in Litauen auf, um für Nahrung zu arbeiten oder zu betteln. Vor allem Marlene hatte bei diesen Touren eine liebe litauische Familie gefunden, die ihr Unterkunft und Verpflegung bis Ostern 1948 boten, obwohl es ihnen strikt untersagt war, Deutsche aufzunehmen. Das war zugleich eine Entlastung für den Rest der Familie. In diese Zeit fiel aber die Nachricht, dass die Ausreise für die Familien Korinth und Schacknies kurzfristig bevor steht. Während Frau Schacknies schon wieder in Birken war, hielt sich Marlene aber noch in Litauen auf. Sie konnte nicht informiert werden.
Frau Korinth war tief verzweifelt und wollte nicht ohne ihre Tochter abreisen, doch Oma Adler versprach, sich um Marlene zu kümmern, wenn sie nach Insterburg zurückkehrt. Oma Adler warnte Frau Korinth, dass sie bei Nichtbefolgen der Ausreise in eine rechtlose Situation mit unbekannten Konsequenzen kommen könnte. Schweren Herzens fuhren Frau Schacknies und der Rest der Familie Korinth nach Deutschland.
Oma Adler hatte Frau Korinth versprochen, täglich am Bahnhof Insterburg nach Marlene zu suchen. Eines Tages traf Marlene dann auch ein und nahm die neue Situation zur Kenntnis. Sie besorgte sich dann eine Tätigkeit als Haushaltshilfe in einer russischen Offiziersfamilie und hielt zu uns engen Kontakt.
So etwa im Juli/August 1948 wurden auch wir für die Ausreise registriert und zur Untersuchung in das Krankenhaus beordert. Nach einiger Zeit erhielten wir die Ausreisepapiere, aber die meiner Schwester Annemarie fehlten. Meine Schwester musste nochmals in das Krankenhaus, und nach kurzer Zeit bekam sie die Ausreisepapiere zweifach. Die Erwachsenen erblickten darin die Chance, um Marlene Korinth unter den Namen Annemarie Lengtat mit in die Ausreise einzubeziehen. Marlene musste üben, ihre Daten gemäß Schein widerspruchsfrei zu beherrschen.
Dann kam die Ausreise. Bei den Kontrollen in Insterburg und Königsberg verlief alles glatt. Nur an der Grenze nach Polen wurde ein Grenzer stutzig. Zweimal Annemarie Lengtat? Da schlug Opa Adler den Beamten vor, sie sollten noch einmal alle Ausreisenden aus diesem Waggon aussteigen lassen und die Anzahl der Personen mit der Liste vergleichen, und siehe, es stimmten die Zahlen.
In Pasewalk ist Marlene dem Roten Kreuz übergeben worden. Marlene wohnte später in Kaarst. 1993 habe ich Marlene seit dieser aufregenden Ereignisse am Hölzernen See zum Treffen der Horstenauer als meine "Scheinschwester" herzlich begrüßt und meine Erinnerungen von ihr bestätigt erhalten.
Traute Steidl
1943 - Als sie heiratete, war ihr Mann schon tot
Aus dem Insterburger Brief zum IB 4/2017 mit dem Titel: Haar-Halskette von Elisabeth Chur
Titelseite IB 4/2017: "Haar-Halskette, gespendet 1963 von Elisabeth Chur, geb. Gleiminger, aus Horstenau, Kr. Insterburg, für das Insterburg-Zimmer auf Burg Linn. Heute befindet sich die Haar-Halskette in der Ausstellung des Heimatmuseums der Kreisgemeinschaft Insterburg in Krefeld."[1]
"Traute Steidl aus Zeuthen schrieb uns zum Titelbild des Weihnachts-IBs. Sie kennt Elisabeth Chur, geborene Gleiminger, aus Horstenau. Sie vermutet, dass die Haare der Kette von Frau Chur selbst stammen könnten, da sie wohl sehr viel Haar hatte. "Lisbeth hatte lange Zöpfe - siehe Foto."
Traute Steidl erinnert sich an ein weiteres ungewöhnliches Detail: Elisabeth Gleiminger, auch "Lilla" genannt, heiratete ihren Mann Hans-Joachim Chur, nachdem dieser im Krieg bereits gefallen war. Sie gehörte zu den Frauen, die ihre Heirat nach dem Tod eines Wehrmachtsangehörigen gemäß "Führererlass" vollzog.
Traute Steidl recherchierte dazu im Internet und wurde bei Wikipedia fündig. Nachfolgend Auszüge:
Ferntrauungen im Zweiten Weltkrieg
Während des Zweiten Weltkriegs wurden im Deutschen Reich Sonderregelungen im Eherecht geschaffen. So gab es die Möglichkeit einer Ferntrauung, einer Totenscheidung und einer posthumen Eheschließung ("Leichentrauung"). Postmortale Eheschließungen hatte es in Frankreich schon während des Ersten Weltkrieges gegeben.
"Stahlhelmtrauung"
Die Möglichkeit einer Ferntrauung bestand seit dem 4. November 1939 auf der Grundlage des Personenstandgesetzes. Notwendig waren dazu eine Willenserklärung des Soldaten vor dem Bataillonskommandeur, eine eidesstattliche Erklärung über die "arische Abstammung" und die Heiratsgenehmigung des OKW für das Standesamt der Braut. Zur Beschleunigung konnte auf vollständige Papiere verzichtet werden und es reichte eine einfache schriftliche Erklärung.
Die Trauung im heimatlichen Standesamt wurde durch zwei Trauzeugen bestätigt. Umgangssprachlich wurde diese Ferntrauung als "Stahlhelmtrauung" oder "Trauung mit dem Stahlhelm" bezeichnet, da bei der Zeremonie ein Stahlhelm an die Stelle gelegt wurde, die ansonsten der Bräutigam eingenommen haben würde.
"Leichentrauung"
Am 6. November 1941 unterzeichnete Adolf Hitler einen Führererlass, durch den die Möglichkeit geschaffen wurde, eine Braut mit einem gefallenen oder vermissten Angehörigen der Wehrmacht zu trauen, "wenn nachweislich die Absicht bestanden habe, die Ehe einzugehen." Eine Veröffentlichung dieser Anordnung sollte unterbleiben. Sie wurde erst als Änderung des Personenstandgesetzes am 17. Oktober 1942 amtlich bekanntgegeben.
Durch diese Eheschließung post mortem wurde die Frau sozial abgesichert und das gemeinsame Kind galt nicht als unehelich. Vergeblich äußerte Staatssekretär Franz Schlegelberger vom Reichsjustizministerium Bedenken gegen diesen Erlass: Möglich sei nun eine Erschleichung der Ehe, um finanzielle Versorgungsleistungen als Kriegerwitwe zu erlangen oder ein Erbteil zu beanspruchen.
Im Juni 1944 wurde die Erbberechtigung auf das Kind beschränkt, welches vom gefallenen Bräutigam gezeugt worden war. Insgesamt kam es zu etwa 25000 derartigen Trauungen mit gefallenen Soldaten. Diese Eheschließungen wurden vom Volksmund "Leichentrauungen" genannt. (aus Wikipedia)" [2]
Erinnerungen von Gisela Burbat
Die verlorene Kindheit
"Auf dem runden Couchtisch liegen die Erinnerungen. Bedächtig sortiert Gisela Burbat die Fotografien auseinander. Sie zeigen ihren Vater in Militäruniform des Ersten Weltkriegs, ein kleines Mädchen mit einem stolzen Trakehnerschimmel und eine fröhliche Kinderschar im Garten. Zu guter Letzt fischt die 78-Jährige eine Farbaufnahme aus dem Stapel. Es zeigt sie 1997 im ostpreußischen Horstenau. Mannshohes Gras wuchert dort, wo einst die Bautzenerin ihre Kindheit verlor.
Gisela Burbat lehnt sich auf der Couch zurück. Von draußen dringt Vogelgezwitscher ins Wohnzimmer. „Unser Hof lag etwas abseits. Wir hatten es nur ein paar Schritte in den Wald. Mit der Kutsche fuhren wir in die nächste Stadt, im Winter ging es mit dem Schlitten in die Kirche. Um diese Jahreszeit blühten wunderbare langstielige Primeln in unseren Blumenbeeten“, erinnert sich die Frau mit den grauen, hochgesteckten Haaren, während sie ein Foto mit dem Hofensemble betrachtet.
Dieses schöne Zuhause liegt zwischen Insterburg und Königsberg am Rand von Hitlers Großdeutschem Reich. Heute gehört der verödete Landstrich zur russischen Enklave Kaliningrad. In der Kindheit von Gisela Burbat kennen die Horstenauer harte Arbeit genauso wie fröhliche Feste. Der Vater züchtet wertvolle Trakehner, dazu kommen Schweine, Kühe, Acker und Wald. Im Haus leben neben der Familie Dienstmädchen, Knechte, Kutscher und ein Kindermädchen.
Mittendrin in diesem Paradies wächst Gisela Burbat auf. Am liebsten verbringt sie die Zeit bei ihrem Schimmel. Ihr erstes Schuljahr beginnt im Jahr 1944. Sie drückt nur kurz die Schulbank, dann verschwindet ihr Lehrer an die Front. Für das Mädchen beginnen sorglose Tage, aber sie dauern nur kurz. Beim Weihnachtsfest 1944 ist die Stimmung schon gedrückt. Die heutige Bautzenerin schließt die Augen. „Festtagsbraten stand auf dem Tisch am Heiligabend, viele Familienmitglieder kamen uns ein letztes Mal besuchen. Es gab nur ein Thema: die Flucht“, erinnert sich die damals Siebenjährige.
Aus der Ferne grollen schon die Panzersalven der Roten Armee. Mit Pferd und Wagen versuchen sie, der Front Richtung Westen zu entkommen. Es ist ein kalter Winter mit viel Schnee. Den Vater beurlaubt der Volkssturm, um seine Familie in Sicherheit zu bringen. In der Nacht zum 19. Januar verlassen die Einwohner von Horstenau bei minus 25 Grad ihr Dorf und das alte Leben. Über die Felder wirbelt der Schnee. Noch heute friert die Seniorin beim Gedanken.
Nur auf den vereisten Landstraßen rücken die Heimatlosen langsam vorwärts. Die Hauptstraßen sind dem Militär vorbehalten. „Wir Kinder verstanden nicht, warum wir alles zurücklassen mussten“, sagt Gisela Burbat. Das Ziel des Flüchtlingstrecks war zuerst Königsberg. Über das halbzugefrorene Haff wollen sie sich in Richtung Danzig durchschlagen. Ihr Onkel überlebt die schweren Strapazen nicht. Zwei Tage liegt der Tote auf dem Wagen neben dem Mädchen. An einer Kirche verabschieden sich die Burbats von ihm. Auf dem vereisten Friedhof kommt er auf den Berg der Leichen. Diese Bilder verschwinden nie.
Irgendwann erreichen die Horstenauer Flüchtlinge das Haff. Mit ihrem Wagen geht es auf die Waage, viele Gespanne sind zu schwer für das zerbrechliche Eis. Gefahr bringen auch die russischen Tiefflieger. Giselas Bruder geht ihrem Zug tastend mit dem Stock voran, um das Eis zu kontrollieren. Der Vater führt das Pferd. Plötzlich taucht ein uniformierter Deutscher auf. Im Karthaus bei Danzig muss er sich zurück bei seiner Truppe melden. Das ist der 10. März 1945. - Zwei Tage später klopft es am Unterschlupf der Familie. Die Russen sind da. Hungrig fordern sie nach Essen. Auf einem Kanonenofen brät die Mutter Eier und verteilt Brot. Ihre Kinder liegen verängstigt auf dem Boden. Am nächsten Morgen entscheidet sich Adelheid Burbat, zurück nach Horstenau zu trekken. Wieder beginnt ein Odyssee bei Schnee, Eis und bitterer Kälte. Zu Fuß machen sie sich auf den Weg - ohne Pferd und Wagen. Am 8. Mai sind sie wieder zu Hause.
Dort ist nichts mehr, wie es war. In ihrem einstigen Wohnhaus sitzt die russische Kommandantur. Die Burbats ziehen in den Hühnerstall. Die Mutter wäscht für die neue Besatzungsmacht. Die kleine Gisela kommt als Kindermädchen zu einer russischen Offiziersfrau, deren Vater für das Gefangenenlager deutscher Soldaten vor Ort zuständig ist. Schnell lernt das Mädchen Russisch. Satt wird sie auch. Ansonsten ernährt sich die Familie von Beeren, Pilzen, Lebensmitteln aus den Kellern zerschossener Häuser und dem Fleisch verreckter Pferde. Es gibt keine Schule, keinen Arzt, kein geregeltes Leben. Drei Jahre dauert die Zeit der Gesetzlosigkeit.
Dann müssen auch die Burbats dem Aufruf nachkommen, dass alle Deutsche das Land zu verlassen haben. Einzig mit einem Messer, einem Soldatenbesteck, einem bereits geflickten Aluminiumtopf und den Habseligkeiten am Leib besteigen die Mutter und ihre fünf Kinder einen Viehwaggon in Insterburg. Es ist eine beängstigende Fahrt in eine ungewisse Zukunft.
Am 21. September 1948 landen sie abgemagert bis auf die Knochen und verlaust im Aufnahmelager in Görlitz. 14 Tage später erhalten die Flüchtlinge ihre Zuzugsgenehmigung nach Bautzen. „Ich bin angekommen, aber gehe nirgendwo mehr hin. Selbst auf Reisen plagt mich das Heimweh“, sagt Gisela Burbat und packt die Erinnerungen zusammen. Dann geht sie in den Garten, wo langstielige Primeln und Hunderte Tulpen blühen. Ihr neues Paradies." [3]
Ein Briefwechsel
Die alte Heimat nach der Vertreibung
In folgendem Briefwechsel aus Aulenbach erfährt man u. a. auch etwas über das Schicksal von Horstenau:
Dr. Dieter Kuprat erzählt von seinem Wiedersehen Horstenaus im Jahr 2005
Nach 60 Jahren wieder in Horstenau
Als unsere Mutter im Herbst 1944 mit uns 5 Kindern Horstenau verließ, war ich gerade drei Jahre alt. Leider verstarb unsere Mutter 1945, und wir Kinder wuchsen getrennt auf. Der Aufenthalt unseres Vaters als Soldat war damals unbekannt. Ich wurde durch Pflegeeltern in Sachsen liebevoll erzogen, doch sie konnten mir über meine Vergangenheit nichts berichten.
Nach dem Ende der DDR knüpfte ich Kontakte und bezog Literatur über Ostpreußen Als besonders lebendig erwies sich die Heimatgruppe „Horstenau“, die Traute Steidl einmal im Jahr seit 1992 organisierte, und intensive Briefkontakte.
2005 lud Traute uns zu einer Fahrt nach Litauen und Ostpreußen ein, um uns „junge“ Leute durch unseren Ort zu führen. Wir waren in zurück liegenden Jahren bereits allein auf Suche, doch fehlte uns die Einordnung der wüsten Flächen.
Mit einem Kleinbus fahren wir von Litauen über Tilsit, Breitenstein in Richtung Georgenburg. Bei der Fahrt im Instertal schult Traute unseren Blick für erhöhte Busch- und Baumgruppen als untrügliches Zeugnis für ehemalige Höfe und Ansiedlungen. Wir kommen an der Vorderfront der Georgenburg vorbei und sehen, dass erfreulicherweise eine Dachsanierung am ehemaligen samländischen Bischofssitz von 1350 und späterem Zentrum der Pferdezucht beginnt. In Georgenburg wurde ich am 12. 10. 1941 von Pfarrer Drews getauft, doch auch die Taufkirche wurde im Mai 1945 bewusst zerstört. Der nördliche Teil der Georgenburg ist ja bereits völlig neu als Pferdezucht und Reiterausbildung gestaltet – einschließlich eines Hotelkomplexes Georgenburg in kyrillischer Schrift.
Doch wir fahren an der Kreuzung nach rechts Richtung Kreuzingen, durchfahren Pagelienen (Perelesno) und nach den Häusern an der rechten Straßenseite, z.B. Lemke, kommen wir an einen Abzweig, der links nach ehemals Blüchersdorf führt.Wir haben das eigentliche Ausgangsziel der Reise erreicht und dokumentieren diese Stelle mit vielen Fotos aller Teilnehmer.
Egon erklärt uns, dass wir uns neben dem ehemaligen Haltepunkt der Kleinbahn befinden. Der Haltepunkt war damals ein Blechcontainer, aber in unmittelbarer Nähe war die Post von Blüchersdorf, der Heimat von Egon bis zu seiner Einberufung. Von der Post konnte er in Richtung Horstenau sehen. In erster Nachbarschaft war die Mühle und das Sägewerk von Horstenau.
Hier trennten wir uns. Wir verblieben 7 echte und eingeheiratete Horstenauer. Traute führte uns einen leichten Feldweg, von dem nach rechts gleichfalls ein Streifen mit Buschwerk verlief, den sie als alte Trassenführung der ehemaligen Kleinbahn erklärte. Nun galt es, in dem freien, großen Gelände eine Einordnung und Positionsbestimmung in der Karte zu finden, denn Bärbel und Lothar interessierten sich als erste für die Lage und Reste ihres Grundstückes.
Horst nahm etwas die Anspannung heraus, indem er uns für die blühenden und duftenden Wildkräuter sensibilisierte. Er brachte uns die blau blühende Gemeine Wegwarte wieder nahe und belehrte uns, dass die Wurzeln in schlechten Zeiten als Kaffeeersatz gebrüht wurden. Wegen ihrer Nutzung als „Zichorienwurzel“ wurde die
Pflanze im 19. Jahrhundert, ähnlich wie auch die Kornblume, kultiviert und auch in der Naturheilkunde verwandt.
Der Himmel wölbte sich mit plastisch geformten Wolken über uns („In Horstenau ist der Himmel blau“). Da es am Vortag in Horstenau geregnet hatte, entfalteten die Wildkräuter ihre ätherischen Gerüche und verstärkten unser euphorisches Empfinden.
Lothars Eltern hatten das Haus erst 1938 neu gebaut. Er erinnerte sich an zwei Fichten als eine Begrenzung. Was machen Fichten im Verlauf von 70 Jahren? Nach ersten Vermutungen an vorgelagerten Stellen kam Lothar kurz vor einem verlandeten Graben, der früher Horstenau zur Entwässerung komplett umschloss, zweifelsfrei an sein Grundstück und fand einige Ziegelreste. Wir freuten uns alle mit ihm.
Nur Traute war nicht glücklich. Sie suchte die Umgebung nach der großen Eiche ab, die markant auf dem höchsten Hügel von Horstenau stand. Weiterhin sollte sich dort das sogenannte Zigeunerhaus befunden haben. In etwa 400 m Entfernung sahen wir zwar einen Hügel mit einem Baum- und Buschbewuchs, aber keine mächtige Eiche.
Traute beklagte, dass sie sonst einen anderen Zugang für Horstenau wählte. Auch Horst und Lothar, die auch 2004 an der gleichen Stelle in Blüchersdorf waren, hatten einen zu weiten Bogen gewählt, der sie zur Oberförsterei führte
Die Sonne brannte zwischenzeitlich heiß vom Himmel, Erregung und Belastung waren erheblich. Ich machte mich deshalb allein auf, um den Hügel zu erkunden. Verwilderte Kirsch- und Apfelbäume, übermannshohes Buschwerk wiesen auf frühere Besiedlung. Fast wollte ich einen Freudenschrei ausstoßen, denn aus dem Buschwerk hoben sich beim Umgehen ein 1 m hoher starker Eichenstumpf und ein großer vertrockneter Ast ab. Die „Eiche“ war gefunden, aber vermutlich vor einigen Jahren abgesägt worden, wobei der Stumpf im Inneren schon Verwitterung aufwies, die Ameisen und Käfer weiter verstärkten. Ich gestikulierte und lief mit der freudigen Nachricht unserer Gruppe entgegen. Mit diesem klaren Merkmal und der Karte lag nunmehr das Dorf Horstenau förmlich vor uns. Mit dieser Genugtuung legten wir dankbar am “Zigeunerhügel“ unsere erste Rast ein. Das Lunchpaket unseres Hotels mundete uns in dieser Umgebung in besonderer Weise. Es war ein Genuss in dieser würzig riechenden Natur - das Gras war frisch gemäht - das belegte Brot, Äpfel oder Gurken zu essen, und das Mineralwasser labte uns. Trotz der Mittagshitze hielten wir uns mit Entblößungen zurück. Die Stechfliegen und Mücken begrüßten uns Spätheimkehrer in besonders intensiver Weise. Dank „Autan“ hielt sich die Herzlichkeit in Grenzen. Auch das Buschwerk und vertrocknete, harte Stängel setzten uns beim Vorwärtsgehen erheblich zu. Meine Schienbeine waren für die nächsten Tage stark ramponiert, aber in der Ausnahmesituation habe ich nichts gespürt.
Nun übernahm Elke die Lagebeschreibung. Vor uns, etwas rechts müsste der Friedhof liegen. Bei meinem ersten Eindringen in das dichte, dunkle und vom Vortag nasse Gestrüpp entdeckte ich keine Grabreste, nur alte friedhofstypische Gewächse waren vereinzelt zu sehen. Ernüchtert ging ich zur Wiese zurück, bis Traute uns rief. Sie hatte einen anderen Zugang gewählt und Reste einer Grabeinfassung gefunden. In der Nähe entdeckten wir noch weitere Einfassungsreste, sahen Efeu und Wacholder, aber nicht einen Grabstein. Unverkennbar war an vielen Stellen gegraben worden. Besonders makaber war ein Grab mit einem verrosteten Feldspaten, und daneben lagen Reste von Schädelknochen. Dieses Erlebnis ließ uns frösteln, aber wir waren bei unseren Vorfahren und hatten unseren Dank abgestattet.
Erneut lag eine weite Landschaft vor uns, durch die uns nun erst einmal Elke führte. Sie wies uns auf die große Buschgruppe, die das Anwesen von Eggers markierte. Wir passierten die Baum- und Buschgruppe von Simoneits und ehemals Wohlfeils (später soll eine Frau Böhme dort gewohnt haben.)
Nun beschleunigten sich meine Schritte, denn ich näherte mich erstmals seit reichlich 60 Jahren dem Grundstück, auf dem meine Eltern und Geschwister mit mir lebten. Vor der angrenzenden Waldkante heben sich gleichfalls hohe, dichte Büsche und Bäume ab, die alles überwuchern und ein Vordringen zur Mitte verhindern. Wir sehen auch verwilderte Apfelbäume und Sträucher von Ebereschen. Es fällt mir schwer, mit Rücksicht auf die Gruppe, diese mich gefühlsmäßig sehr bewegende Stelle schon wieder zu verlassen. Hier also haben wir fünf Kinder mit unserer Mutter gelebt, während der Vater im Krieg war. Im Oktober 1944 haben wir das Grundstück hastig verlassen und sind in Sachsen im Ort Erlbach in einer Kammer untergekommen. (Ich habe jetzt noch Träume, wo gepackt wird, wir es aber nicht schaffen, alles zu verstauen.)
Die Zerstörung des Ortes 1945 durch die Rote Armee, die Traute teilweise erlebte, üppiger feuchter Wuchs werden bald die Ursachen sein, dass meine erste Heimat nicht mehr aufgefunden wird; es sei unsere Kinder oder Enkel wollen diese Wurzeln und Geschichten noch erleben.
Ich staune über Traute, wie sie bei diesem Wetter die Anstrengungen absolviert, sehe aber auch ihr die Freude an, uns dieses bewegende Erlebnis zu verschaffen und uns Horstenau ganz nahe zu bringen. Es ist unvergleichlich befriedigend, den Vorfahren auf diese Weise zu danken und Respekt zu zollen.
Am schattigen Rand der Baumgruppe bei Wachsmuth legen wir die nächste Rast ein. Mit Tucholsky gesprochen, lassen wir unsere Seele baumeln, blinzeln in den blauen Himmel mit immer wieder neuen, eindrucksvollen Wolken (den ostpreußischen Himmel muss man erlebt haben), nehmen die würzigen Gerüche - vielfältig, anderseits in Harmonie wie die Kräuter der Provence in uns auf. Ich summe das Lied von Paul Gerhardt „Geh aus mein Herz und suche Freud...“ vor mich hin.
Doch vieles liegt noch vor uns. Lothar findet einen Weg beim “Gehöft“ Kreuzberger zur Trasse der ehemaligen Kleinbahn. Da dort Traktoren gefahren sind, ist der Weg passierbar, aber der Damm grenzt sich zur übrigen Natur ab. Nach etwa 500 m erreichen wir eine ebene Fläche, die ehemalige Haltestation der Kleinbahn in Horstenau. Wir erkannten die Fläche vom Besuch 2004 wieder, als Elke und ich von der Oberförsterei herkommend, diese Stelle als verlandeten Dorfteich einstuften...
Nun übernahm unsere ungekrönte Dorfchefin, Traute, wieder die Führung. Wir mussten neben der ehemaligen Dorfstraße bei Korinth vorbei etwa 800 m an einem Wiesenrand gehen und langten am Grundstück bei Petereits an. Jetzt wurden Edith und Horst besonders aktiv. Sie umkurvten ihr Grundstück, als wollten sie in der nächsten Zeit mit der erneuten Urbarmachung beginnen. Das Gelände selbst war auch etwas offener, nicht so extrem zugewuchert. Horsts Augen leuchteten und wurden feucht. Auch er konnte sich nur schwer wieder losreißen, zumal er noch konkrete Kindheitserinnerungen hatte, die auch durch den möglichen intensiven Kontakt mit seiner Mutter erhalten geblieben waren.
Traute zeigte uns die Richtung, wo Metts und sie mit ihren Eltern wohnten. Eine freie Fläche markierte das Gelände der ehemaligen Dorfschule. Ich höre die Klagen meiner Schwester Gerda, die quer über die Wiesen und Felder zur Schule lief und stets mit feuchten Füßen in der Schule saß.
Bis zum alten großen Dorfteich führte unser Weg über die noch vorhandene - aber zum Teil überwucherte - Dorfstraße. Am Ufer des Teiches, der am Rand stark mit Schilf bewachsen war und Seerosen aufwies, sah man „Spuren“ von Besuchern. Kleine Feuerstellen, wie immer im Umfeld mit dem Restmüll stammten von Anglern oder Badenden. Übrigens hatten die meisten Anwesen Brunnen und kleine eigene Teiche, da das Grundwasser sehr hoch war und durch das Grabensystem reguliert werden musste. Deshalb waren die Häuser auch nicht unterkellert, sondern die Vorräte wurden in erhöhten Erdhügeln eingelagert.
Ein letzter Blick nach vorn zur Buschgruppe Koslowski, dann kehren wir um.
Von Petereits sieht man die Straße Insterburg - Tilsit. Wir gehen über eine gemähte Wiese und kommen kurz mit einem Traktoristen ins Gespräch, der beim Heuwenden ist. Es ist doch spärlich, was an saurem Gras auf den großen Flächen zusammenkommt. Für eine ernsthafte landwirtschaftliche Nutzung müsste das Grabensystem um Horstenau wieder erneuert werden, denn die sumpfigen Abschnitte werden größer... Ein zweiter Bauer auf einem Traktor hielt uns, wenig freundlich, vom Durchgang seines Hofes mit Hinweis auf seine Hunde ab. So erreichen wir die Landstraße etwas oberhalb von Stossus.
Arvidas, unser litauische Begleiter, wartete bereits mit seinem Kleinbus; es war gegen 17 Uhr.
Waren wir glücklich über das erlebte Geschenk der äußeren Bedingungen und die Heimat verbundene Führung durch Traute. Sie ließ durch ihre Erläuterungen das Dorf regelrecht wieder erstehen und hauchte jeder Buschgruppe die zugehörige Geschichte ein.
Danke, liebe Traute, diesen Tag werde ich nie vergessen und in mir bewahren!...
Fotos dieser Exkursion nach Horstenau
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Diese Fotos wurden freundlicherweise von Lothar Tietz zur Verfügung gestellt.
Spurensuche in Horstenau 2014
Zwei Schwestern auf der Suche nach dem mütterlichen Hof Berg
Oberförsterei und Kleinbahn
Epilog
Erstmals verzichtet unsere verdienstvolle Organisatorin Traute Steidl (Berlin-Zeuthen) 2018 auf die Vorbereitung eines Treffens der ehemaligen Bewohner und ihrer Angehörigen aus Blüchersdorf, Schackenau und Horstenau aus dem Landkreis Insterburg.
Seit 1992 fanden diese Treffen jährlich an vielen Orten Deutschlands statt und umfassten auch gemeinsame Reisen in das Insterburger Gebiet, wo vor allem Traute Steidl, Egon Heigel, Horst und Traute Lemke und Willi Zülchert uns sehr anschaulich über unsere Geburtsorte berichteten und mit Bildern und schriftlichen Erinnerungen dafür sorgten, dass wir über die Jahre gegen das Vergessen im Internet die entsprechenden Seiten gestalten konnten.
In über 25 Jahren führten Gespräche, Briefwechsel und persönliche Kontakte zu einer besonderen Vertrautheit, die die besondere Atmosphäre der Treffen prägte. Es war von Beginn an der Umsicht von Traute Steidl zu danken, dass im Kontakt das vertrauliche "Du" galt, revanchistisches Verhalten nicht geduldet wurde und die Herkunft - ob Insthaus oder Gutsbesitzer - keine Rolle spielte.
So bewahren wir unsere Erinnerungen an unsere Vorfahren und eigenen Erlebnisse vor dem Vergessen. Natürlich schmerzen der Verlust unserer Heimatdörfer und viele bittere Erlebnisse der Flucht, aber wir wünschen der Region endlich einen moralischen und wirtschaftlichen Erfolg und bleiben uns der eigenen Schuld bewusst.
Diese Treffen sind nun auch Erinnerung. Danke an die Schwestern Marieta und Petra Waldszus, die die Vergangenheit des Ortes Horstenau erforscht, bearbeitet und auf dieser Seite für die Nachkommen erhalten haben.
Dr. Dieter Kuprat, Traute Steidl, Marieta Waldszus und viele andere ehemalige Bewohner*innen und deren Nachfahren