Neusaß Sköries/Berichte
Litauen/Memelland 2000
Eine Reise in die Vergangenheit...
27. April 2000 - Sonne 23°C
Der Aufbruch
Nach einem herrlichen Frühstück bei Mausi und schönstem Sonnenschein, ging sie los - unsere Fahrt in die Vergangenheit.... In Moisburg fuhren wir noch schnell beim Friedhof vorbei, und irgendwie hatten wir das Gefühl, als müsste das so sein. Eine kleine Dose mit Erde aus Moisburg für einen symbolischen Brückenschlag hatte ich schon vorher besorgt.
Bei wunderschönem Wetter ging es ohne Stau und Komplikationen durch das blühende Schleswig-Holstein nach Kiel zum Osthafen. Die MS "Greifswald", ein ehemaliger Sea-Carrier (Schweden/Dtschl.) lag schon bereit, und nach Erledigung der Zollformalitäten, dem Einchecken - "Haben Sie denn schon Ihr Ticket bezahlt?" (Computerfehler) - wurden wir gegen 14.00h Uhr an Bord gelassen.
Ca. 30 LKW und vier PKW verschwanden auf der Fähre und jedes Fahrzeug hätte seine eigene Fahrspur haben können. Platz ohne Ende. Die Kabinen sind zweckmäßig, sauber und von akzeptabler Größe, sogar das Bullauge lässt sich öffnen. Die Sonne lachte vom blauen Himmel, und so hielten wir an Deck erst mal eine kleine Siesta. Heiß und mangels komfortabler Sonnenstühle - auch die netteste Bank wird irgendwann zu hart - gingen wir zurück in die Kabine zum Pennen. Pünktlich um 16.00 h ging es dann los, und nun zieht die grandiose Landschaft von Mecklenburg-Vorpommern im Dunst an uns vorbei. Ob die LKW-Fahrer hinter mir Russen oder Litauer sind, kann ich noch nicht feststellen, aber Wodka, Gurken, Sauerrahm und Brot lassen mich auf östlichere Gefilde tippen. Na dann, Prost Osten....
Die Ostsee gibt sich von ihrer schönsten Seite - ruhig schillernd und majestätisch läuft die Fähre ihren Kurs. Alles ohne nennenswerte horizontale Verschiebungen. Wat'n Glück! Das Abendessen wird in der sogenannten Cafeteria eingenommen. Ein zweckmäßiges, realsozialistisches Ambiente, mit West-TV, gibt den Rahmen für ein Kotelett mit Sauce, Salat, Kartoffeln und Tee für 17.- DM . Na ganz nett - aber Wucher. Mit ausgiebiger Zeitungslektüre, einem doppelten Wodka und einigen letzten Telefonaten kreuzen wir jetzt vor dem Darß dem neuen Tag entgegen.
28. April 2000 - Sonne 18°C-24°C
Die Überfahrt
Nach einer ruhigen und geruhsamen Nacht - wir wussten die Gründe dafür noch nicht - ging es zum Frühstück, wo uns der Bildhauer aus Klaipeda/Memel (interessierte sich für unsere Reise) eine junge Frau aus Silute/Heydekrug vorstellte. Diese war an einer Kontaktaufnahme jedoch sichtlich nicht interessiert, und so konnten keine weiteren ersten Erkenntnisse gewonnen werden. Alle an Bord wissen, dass wir aus Deutschland kommen, mustern uns zurückhaltend und distanziert und machen den Eindruck, als ob sie nicht recht wüssten, in welche Schublade wir passen würden (Touristen, Geschäftsleute…).
Nach dem Frühstück ging es erst mal in die Koje, und ein nettes Schläfchen bis um 11.00 h schloss sich an. Danach erfuhren wir dann, dass sich das Schiff um bis zu 5 Stunden verspäten würde, Maschinenschaden! Jetzt konnten wir uns auch erklären, warum letzte Nacht so viele Funken aus dem Schornstein geflogen kamen. Na, wollen wir mal hoffen, dass dies der einzigste Schaden bleibt.
Ein sehr merkwürdiges, extrem lebendiges und doch mit der Vergangenheit verwobenes Gefühl beschleicht mich immer wieder, wenn ich so auf das schillernde Meer blicke. Wie viele Menschen sind hier damals auf der Flucht ertrunken? Was für Schicksale haben sich hier abgespielt? Wie viele Tränen des Leides und der Freude sind geflossen...?
Obwohl ich all diese Dinge nie selbst erlebt habe, immer nur gehört, gelesen und in den Medien verfolgt habe, fühle ich mich eher befangen und habe immer wieder den Eindruck, als würde ich in ein "besetztes Land" kommen. Sehr merkwürdig und durch nichts Rationales zu erklären. Mir scheint, in dieser Reise reist ganz viel Gefühl mit...!
Den ganzen Nachmittag haben wir nur rumgegammelt, sind auf- und abgegangen, haben Radio Gdansk gehört, gelesen und in der Sonne gepennt. So ist das, wenn man plötzlich so viel Zeit hat.... Vor dem Abendessen haben wir dann noch mit dem netten Bildhauer gesprochen. Er zeigte uns voller Stolz seine Bildermappe mit Ausstellungsstücken an den verschiedensten Punkten der Welt und lud uns ein, sein Zuhause zu besichtigen. Duty-free schloss sich an.
Unglaublich - es ist jetzt schon 21.20 h und plötzlich sehr warm geworden. Vor uns sehen wir die ersten Lichter von Klaipeda/Memel am Bug und einen letzten Sonnenstrahl am Heck.
Mit T-Shirt-Laune, sehr schöner Musik aus dem Radio fahren wir am Haff vorbei und mir ist ganz anders. Ich kenne nichts hier, war niemals hier und habe ein irres
"Heimkommgefühl". Ganz tief und merkwürdig ergriffen und zugleich fasziniert laufe ich planlos hin und her und muss mich zur Ruhe zwingen. Die Musik ist meine Wurzel zur westlichen Heimat, das was jetzt abläuft, das Gesehene, der andere noch zu entdeckende Teil, die noch verborgene Wurzel. Komisch und bestimmt für Außenstehende kaum nachvollziehbar, habe ich das Gefühl, nun im neuen Jahrtausend wird sich ein ganz wichtiger Teil meines Daseins, unserer Familiengeschichte, schließen.
So oder so, was immer wir auch erleben werden. Gut, dass wir endlich gefahren sind. Das Leben ist schön.
Von der Fähre ging es dann in die Stadt Klaipeda/Memel. Nicht ohne eine dekadente und egozentrische Zöllnerin: "Können Sie nicht lesen?". Wir hatten ein wenig Probleme mit der Beschilderung und waren eigentlich schon fast aus dem Hafen raus. Nach einigen Runden kamen wir dann aber doch auf den richtigen Weg. Was soll's....
Durch die sehr sozialistisch anmutende, nächtliche Neustadt Klaipeda mit 210.000 Einwohnern (Memel 1944: 40.000 Einwohner) ging es dann zügig zum Hotel Klaipeda und ab ins Bett (01.00 h). Herrlich durchgelegene Betten und total überheizter Raum. Nett! Am lustigsten fand ich hier die Etagenfrauen. Sie verkauften allerlei nützliche Dinge und waren gleichzeitig für den Zimmerservice zuständig. Außerdem sollten sie alles wohl ein wenig überwachen. Das Zimmer verfügte über Satelliten TV - leider gab es aber keinen Satelliten...
29. April 2000 - Sonne 29°C
Der erste Tag
Schon um sieben Uhr (der arme Bernd!) ging es zum Frühstück. Ich wollte doch keine Zeit verlieren... Ein herrlicher Saal in stalinistisch-skandinavischem Ambiente
empfing uns. Am Büfett gab es reichlich Auswahl frühwestlicher Genüsse, und so konnten wir leicht amüsiert frühstücken, das internationale Publikum beobachten, die Hochnäsigkeit (vielleicht auch Unsicherheit) ertragen und danach einen Panoramablick aus dem 12. Stock des Hotels auf Klaipeda/Memel und die Kurische Nehrung erhaschen. Schnell noch das Geld gewechselt, und ab ging es. Über gut ausgebaute Straßen mit netten Schlaglöchern durch die zuerst noch recht zersiedelte Neustadtlandschaft.
Aber dann wurde es immer schöner. Leicht hügelig, blühende Wiesen und frisch belaubte Bäume sehend, fuhren wir einem scheinbar endlosen tiefblauen Horizont entgegen. Durch pittoreske kleine, entzückende Dörfer, die allesamt auch schon bessere Zeiten erlebt hatten (aber wieder zu Leben erwachend durch Wiesen und Wälder, die so schön sind, dass man sofort wieder anhalten möchte, um sich in die Natur zu legen. Wat is dat schoin….
Wir hielten dann in Priekulė/Prökuls zum Kaffee (Schmodderkaffee) - lecker(!). Milch gab es auch. Jedoch erst nach meiner Darstellung einer Kuh, deren Euter und dessen Inhalt - sehr zum Amüsement der Bedienung. Danach genossen wir erste Eindrücke von Silute/Heydekrug und fuhren dann nach Naumiestis in das schön gelegene Seehotel. Zu schön, um wahr zu sein. Was für eine Lage… Die Idylle hoch drei. Nach einem ausführlichem Rundgang meinerseits, ging es dann gleich erst mal in den See zum Baden.
Störche über Störche sind hier zu sehen. So viele dieser possierlichen und bei uns so seltene Tiere haben wir beide noch nie gesehen. Während der gesamten Reise waren sie immer unsere Wegbegleiter. Haus- oder Mast-Nest-Storch! Gegessen wurde im Park (Hering/Dorsch). Diese Leckerei behielten wir dann auch bei. Zu lecker! Im Liegestuhl liegend wurde noch ein wenig pausiert, gebadet, gerudert, relaxt - es war einfach zu warm zum Sightseeing... dachten wir... Dann fuhren wir los. Auf staubigsten Sommerwegen durch die wunderbare Landschaft, vorbei an Gehöften von vorgestern, an Dutzenden von Storchennestern, an Katen, die so verfallen waren, dass wir kaum glauben konnten, dass hier noch Menschen leben.
Überall noch Brunnen, festgepflockte Kühe und Pferde, Ziegen und Hühner, der obligatorische Hof- und Haushund inklusive. Wirklich wundervolle Alleen im frischen Birkengrün. Brachliegende Äcker, die kein Mensch mehr bearbeitet, halbnackte Familien, die in der Sonnenhitze ihr kleines Stückchen Land bearbeiteten - wahlweise mit Pferd und Pflug oder auch nur mit Menschenkraft.
Was für eine Kulisse…
Das Thermometer zeigte mittlerweile 31°C im Schatten. Ein Lob auf die Mercedes Klimaanlage, als wir in Jugnaten einfuhren. Hier machte ich auch gleich den ersten Fehler. Der Vistbutis (Gasthof) von Ferdinand Siebert stand niemals hier, sondern in Laudszen. Das weiß ich aber erst jetzt. Pech! Aber weiter im Original. Wir suchten also den Gasthof meines Urgroßvaters. Kreuz und quer durchs Dorf, die Alleen rauf und runter. Ein netter, in die Jahre gekommener, ehemaliger Luftwaffenhelfer im Rollstuhl half uns bei der Suche und amüsierte sich königlich, wenn wir mal wieder an ihm vorbei fuhren. Dann ging es auf die Chaussee nach Tilsit, aber nix. In Wieszen rein in den Kirchhof. Alle alten und jungen Leute im Nu versammelt - nett und freundlich, aber nichts zu machen. Originaltext: "Ruskie machen alles platt…". Noch schnell den Wiederaufbau der Kirche begutachtet und gespendet.
Leicht genervt und verschwitzt ging es dann nach Neusaß Sköries. Suchen wir doch erst mal das Grab meiner Urgroßeltern (Schaar). Dank der guten Orientierung von Bernd und meiner stoischen Dickschädeligkeit waren wir uns plötzlich ganz sicher auf dem richtigen Weg zu sein. Auch eine laut bimmelnde Schrankenanlage ohne Schranken konnte uns da nicht mehr aufhalten. Zu eindeutig, zweideutig waren auch die von Horst und Christa Mirau gemachten Angaben über die Lage des Friedhofes. Erst im Nachhinein stellten wir die Genauigkeit ihrer Angaben fest. An dieser Stelle nochmals einen herzlichen Dank für alle Unterstützung und Ermunterungen diese Reise anzutreten.
An einer Stelle war ich mir so sicher - alle Angaben noch mal schnell durchgecheckt - dass nur "dorthen" der Friedhof sein konnte - musste - und nix wie raus aus dem Auto, über Stock und Stein, barfuß, die Füße zerkratzt, wie merkwürdig und kopflos man sich doch manchmal verhält. Schweißüberströmt erreichte ich das kleine Wäldchen und tatsächlich. Der Grabstein war schon vom Acker aus zu erkennen. WAHNSINN!
Rein in den Friedhofswald, unglaublich vor dem Grab meiner Urgroßeltern zu stehen, einfach so. Das Doppelgrab inmitten eines völlig verwilderten Friedhofes zwischen alten Lagerfeuern (Wer kann hier in aller Seelenruhe ein Feuer machen?) und Gestrüpp sehr gepflegt und ordentlich, mit Stiefmütterchen bepflanzt - wie im Film. Ringsrum Hunderte von Maiglöckchen, zwei Lebensbäume links und rechts vom Stein, ein Strauß Narzissen.
Andächtig und völlig aufgelöst rannte ich hin und her, filmte, Bernd fotografierte, die Lage wurde noch mal verglichen und zum Teil korrigiert, ein Stein für Mausi gesucht, es lagen auch noch Backsteine herum - vielleicht vom Haus der Urgroßeltern (?), und nach geraumer Zeit gingen wir wieder zum Wagen zurück. Tief beeindruckt.
Auf halbem Wege kam uns ein Ehepaar im Wagen entgegen - einfach so wie aus dem Nichts - quer über die Steppenfelder. Gestutzt und nachgedacht - könnten das die Pfleger des Grabes sein? Sie stiegen aus und schleppten in Milchkannen Wasser in das Wäldchen…. Also wieder zurück und tatsächlich. Sie waren es, gossen Blumen und zupften Unkraut an dem Grab. Schnell kam ein deutsch-litauisches Gespräch in Gange. "Ich haben Photo von Emma und Gustav Schaar. Kommen nach Hause, gucken...". Na, was für eine Einladung. Wir fuhren gemeinsam nach Jugnaten zu einer Freundin von Grazina Lapinskiene, die ausgezeichnetes Ostpreußisch sprach. Virgirnija Alekniene, eine
resolute und stämmige Mittvierzigerin mit Charme und Witz lud uns gleich zum Kaffee ein. Dies wollte Grazina aber gar nicht gefallen, denn wir waren doch ihre Gäste. So wurde also nochmals im ganzen Dorf nach dem Gasthof gesucht - aber nicht gefunden.
Danach ging es zu Grazina und ihrem Freund, Opa - ein wirkliches Original - und den Kindern und Enkelkindern. Es wurde gleich Schnaps (selbstgebrannter Roggenschnaps mit Prozenten ohne Ende), Speck, Brot, Schokolade und Gemüse in die gemütliche Laube gestellt und viele schöne Gespräche entwickelten sich. Opa war unser absoluter Liebling. Keine Zähne, wettergegerbtes Gesicht, lustige Augen und einem kleinem Schnäpschen nicht abgeneigt. Er kam so richtig in Fahrt und zog seine Mundharmonika aus der zerbeulten Hose. Eine Polka, Walzer und was er noch alles so konnte, es war ein echter Genuss. Was man doch mit 85 Jahren noch so alles kann. Grazina erzählte uns dann noch, dass der Bürgermeister von Jugnaten sie beauftragt hätte, das Grab meiner Urgroßeltern zu pflegen - natürlich ohne Bezahlung. Für sie wäre das vollkommen okay und eine ganz normale Sache. Wir hatten nicht den Eindruck, dass sie von uns etwas erwartete. Eine so nette, grundanständige und gottesfürchtige Frau mit einem enormen Leidensweg erschien uns einfach glaubwürdig. Morgen fahren wir noch mal vorbei und bringen ein Präsent gefüllt mit Devisen mit. Ist doch alles eine Sache der Ehre.
Zurück ging es dann über die wunderschönen Chausseen und hinterher saßen wir noch im Hotel - hörten Musik und waren unglaublich dankbar für diesen wundervollen Tag.
30. April 2000 - Sonne 31°C
Die Fahrt in die Heimat
Nach einer ziemlich lauten Nacht - litauische Hochzeit - haben wir uns das Frühstück selbst bereitet. Das Personal war schlichtweg zu besoffen und hatte völlig verpennt. In der schönen Natur ein wahrer Genuss.
Dann ging sie los - die Fahrt nach Uszlöknen, über Jugnaten (eine ehemalige sowjet. Musterkolchose) über die unglaublich schöne Allee von Klugohnen. Nach einer Bergkuppe fiel der Blick auf eine weite Tiefebene, seitlich begrenzt von tiefen Wäldern. Uszlöknen, wie oft habe ich diesen Namen gehört, wie viele gedankliche Bilder entworfen, wie viele Geschichten aus der Heimat gehört, so viele wiedergegebene Erinnerungen und nun:
NIX!
Weite, verlassene Steppe, aber ab und an ein verfallenes Gehöft, eine Straße, Wald. Wo sollen wir nur anfangen? Also erst mal alles abgefahren, Sonnenstand beobachtet, mit dem Kompass die Richtungen bestimmt, den Plan verglichen, Wald, Feld und Chausseen verglichen, Entfernungen und Dimensionen abgeschätzt, ein wenig härter diskutiert - aber nur wegen der enormen Hitze - einen Bauern befragt, der konnte sogar Englisch und bewohnte den Hof in der Nähe des vermuteten Grundstücks. Den Wagen geparkt und nun fast alle Klamotten runter, kleine Wasserflasche in die Büx, Wanderschuhe an (nie wieder barfuß durch die Steppe) und ab in die "Pampas". Durch Brennnesseln,
Mückenfelder, Buschwerk und Äcker - hört sich richtig abenteuerlich an, war aber recht mühselig. Dem Himmel sei Dank, dass die Vegetation noch nicht so weit war, für uns reichte es allemal. Ca. 1,5 km gingen wir bis zum großen Wald und von dort sahen wir dann auch zum ersten Mal eine gewisse parzellenartige Aufteilung (Büsche, Obstbäume, etc.), sahen einen Brunnen und eine Scheune. Wir lauschten dem Kuckuck und waren ganz angetan von so viel Wildnis. Sehr ergriffen, nahmen wir an, nun wohl nichts mehr zu finden und fanden es zu blöd, dass einfach alles zerstört wurde. Also wieder den ganzen Weg zurück, schweißüberströmt erst mal in den klimatisierten Wagen.
An der Chaussee, zu Beginn des großen Waldes, fand ich durch Zufall Erdbeerpflanzen und Johannisbeerbüsche, deren Ur-ur-ur-ur-urahnen wohl noch die alten Zeiten kennen müssten. Also ab ins Niedergehölz und für alle noch lebenden Familienangehörigen einen lieben Gruß aus der alten Heimat mitgenommen, der hoffentlich heil und sicher in Stade ankommen wird.
Von der Straße aus sahen wir immer deutlicher die Parzellierung der nun gar nicht mehr so "leeren" Landschaft , genauso wie es auch die alte Dorfkarte hergab, schätzten wir die Waldgrenze nach 64 Jahren Wildwuchs ab und kamen immer mehr zu der Auffassung, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Also noch mal schnell die ersten Parzellen abgesucht, alte Topfdeckel, Zinkwannen und Armeeblechdosen sowie jede Menge Bauschutt unter Bergen von Unkraut gefunden. Nun ging es den Waldweg entlang und schon
standen wir vor einer alten Kate, total heruntergekommen, mit barfüßig spielenden Kindern davor, Oma und Eltern inklusive. Mit Händen und Füßen und anhand der Fotos verstanden sie recht schnell, was wir wollten und führten uns nun herum. Da sah ich plötzlich den Brunnen. Oh bitte, lass es das Grundstück sein. Eine Scheune, Obstgarten, 2 Pferdeschlitten, eine Egge standen mit dem Zahn der Zeit wie ewig vergessen da und alles erschien so logisch. Wir mussten es einfach gefunden haben.
So dicht am Wald, so genau der Verlauf des kleinen Weges von der Kate zum Grundstück, es passte einfach zu genau.
Der nette Litauer zeigte mir dann noch allerlei andere Grundstücke und führte mich durch die Wildnis. Mit allerlei Gesten machte er deutlich, wo früher die Häuser gestanden hätten. Aber woher er das alles wusste, ich habe es nicht herausbekommen. Ich war tottraurig, eigentlich nichts genaues gefunden zu haben, so gar keine definitiven Angaben zu haben, und manchmal redet man sich die Situation ja auch selbst zurecht - eben wie man es gerade braucht, und so fuhren wir dann über Tattamischken (was für eine Staubpiste) den Russ entlang durch tiefsten Urwald bis Rusne (Russ). Erst im Nachhinein entdeckten wir, dass weite Teile dieses Deltas schon vor dem Krieg kanalisiert wurden, nun jedoch völlig der Natur überlassen wurden. Was für eine Natur, Millionen von Mücken, Störche ohne Ende, durchzogen von abenteuerlichen Wegen, zum Teil vom Wasser überlaufen, ein Eldorado für alle wasserliebenden Pflanzen und Tiere. Ganze Wälder standen unter Wasser. In Russ sahen wir die wunderschöne alte Stadt, die russische Grenze, badende Kinder im Fluss und viele schöne alte Häuser. Sehr idyllisch auch die gekreuzten Pferdeköpfe an den
Dachfirsten einiger Gebäude.
Zurück ging es dann nach Heydekrug zum Essen auf dem alten Marktplatz und danach zum Kaffee nach Jugnaten bei Virjinia. Vorher noch schnell zum Grab der Urgroßeltern und Erde für Moisburg geholt als Gruß aus Auritten.
Im Hotel angekommen wurde erst mal eine Dusche genommen, und dann bin ich auf den wunderschönen See hinausgerudert - musste irgendwie die Anspannung loswerden. Bernd lag unter den Birken und hielt Siesta. Dank SMS und TD1 holten wir uns von Mausi immer mehr Infos über das Grundstück und beschlossen, morgen nun nochmals nach Uszlöknen zu fahren.
0l. Mai 2000 - Sonne 20°C
Ein neuer Tag
Nach einem heftigen Temperatursturz heute Nacht - ohne Regen - empfing uns ein stahlblauer Himmel, aber ungewohnt kühl. Also rasch gefrühstückt, und ab ging es nach Heydekrug zum Pfarramt. "Dorthen" trafen wir eine Missionarin aus Deutschland, die uns alle möglichen Kirchenbücher zeigte, aber von uns war nichts zu finden.
Danach ging es zum Heimatmuseum und "dorthen" trafen wir die sehr nette Direktorin Rosa Siksniene (auch: silutmuz@takas.lt).
Sie erzählte uns wirklich Stunde um Stunde über die Vertriebenen, den Krieg, den Einmarsch der Roten Armee am 12. April 1944 in Heydekrug, die Wolfskinder, die Geschichte von Litauen, dem Memelland, kurz eine unerschöpfliche Informationsquelle. Hätten wir nicht noch so viel vorgehabt, wir hätten noch Stunden weiter geredet über Euroland, das Verhältnis zu den Deutschen, die geringen Kenntnisse der Europäer über das heutige Litauen...
Das alles bei leckeren Keksen und Schmodderkaffee. Toll! Nebenbei sahen wir uns noch das Museum an, schmökerten in alten Adressbüchern von 1943 und fanden tatsächlich
die Eintragungen der Familie Schaar und Siebert.
Ein Erlebnis der besonderen Art war das angeschlossene Plumpsklo des Museums. Was für Zeichen, was für Gerüche und dabei alles so stilecht.
Wir sind danach noch etwas durch Heydekrug gewandert - bedingt durch die lange sozialistische Ära ist der Wiederaufbau jedoch noch lange nicht abgeschlossen, und eine gewisse Tristesse lies sich nicht verleugnen. So fuhren wir also wieder durch die schöne Landschaft nach Jugnaten. Vom Hunger geplagt kehrten wir in das ehemalige Gästehaus des Vorzeigekombinates ein. "Dorthen" aßen wir im wunderschönen Wintergarten unter Palmen und Bananenbäumen eine kalte Platte, sprachen mit der netten Kellnerin und bezahlten einen Wucherpreis für das einzige angebotene Gericht.
Dann ging es noch mal nach Uszlöknen, und wieder wurden die Wiesen und Wege abgelaufen, noch mehr alte Steinhaufen entdeckt, das evtl. Grundstück von allen Seiten fotografiert und auf Video festgehalten. Wie schön diese Gegend ist und sooo weit.
Gegen 16.00 h erreichten wir das Hotel und mussten erst mal eine kleine Pause einlegen. Nach dem Abendessen sind wir dann noch mal in den Ort Naumiestis aufgebrochen, haben uns die Kirche und das Dorf angesehen, ein Eis auf dem Kirchberg genossen - bestimmt war hier früher ein alter heidnischer Versammlungsort - und haben den Blick auf das schöne Dorf genossen. Im Dorf lief gerade eine Ausstellung: Nach dem Motto: Wer hat die schönsten Tulpen im Dorf... Der gesamte Eingangsbereich war voller edler Züchtungen, und die schönste Tulpe war meiner Meinung nach die: West Point. Eine wahre, edle Schönheit. Müsste man sich mal im Westen besorgen.
Bernd genoss die Probe des örtlichen Dorfchores, und in der Tat passte die typisch östliche Volksmusik ganz gut zu unserer momentanen Stimmung. Die Kamera hatten wir natürlich im Hotel gelassen. Pech!
Am Abend unterhielten wir uns dann noch mit einer etwas überheblichen Familie aus Buxtehude. Ein wenig abgehoben und dekadent und für mich die "typischen Deutschen" darstellend, waren sie fest davon überzeugt, dass diese Welt nur auf einem gefestigten Glauben an Gott genesen kann. Na prima…
Gegen Mitternacht fielen wir dann geschafft in die Betten und lauschten ein letztes Mal den Geräuschen der Nacht am See.
02. Mai 2000 - Sonne 18°C
Der Abschied
Wunderbar. Morgens aufzuwachen, den Kuckuck im Wald zu hören, in einem sonnendurchfluteten Raum die Augen aufzuschlagen, Herz wat willste mehr?
Gefrühstückt und schnell gepackt, einen letzten Blick auf den See, Abschied von Lassie (Hofhund), den Hausstörchen und ein letztes Mal den Weg auf der Chaussee nach Heydekrug. Den Birnenbaum mit all seiner Blütenkraft, der kurz vor Laudszen so oft von uns bewundert wurde, musste dann doch noch mal von uns fotografiert werden - natürlich von allen Seiten. So eine Pracht!
Durch die wundervolle Memellandschaft, überzogen von einem azurblauen Himmel ging es dann direkt nach Memel - zum Mc Donalds und auf die Fähre über das Kurische Haff zur Kurischen Nehrung.
Extremer hätte der Bruch nicht sein können. Solch ein Szenen- und Landschaftswechsel. Spätestens beim Ami-Restaurant, dass so gar nicht in die Vergangenheit passen wollte, hatte uns die Gegenwart wieder. Vielleicht aber auch ganz gut so. Denn eines steht fest, die Zeiten haben sich geändert und sind weiter gegangen. Alles ist im
Fluss. So stellte dann die Fähre über das Haff auch die nötigen äußeren Rahmenbedingungen. Wir empfanden es jedenfalls so.
Mit "dickem" Kopf und leicht irritiert setzten wir dann zur Landung auf der Nehrung an und fuhren gleich nach Schwarzort. Leider noch alles sehr leer und verlassen, und so ging es gleich weiter nach Nidden, dass zwar auch nicht sehr groß ist, jedoch viele sehr schön restaurierte Katen und Fischerhäuser aus der alten Zeit besitzt und wo unwahrscheinlich viel restauriert wurde und noch wird. Nach längerem Suchen fanden wir dann auch ein sehr schönes, noch dazu extrem westliches Hotel mit allem Komfort, zu angemessenen Preisen. Nach der obligatorischen Ruhezeit ging es dann an das Meer und die wundervollen Dünen und Kiefernwälder. Hier gab es sogar schon die ersten Badegäste - trotz des etwas frischem Ostseewassers. Die ersten Eindrücke von Nidden wurden gesammelt und der Hunger gestillt, der Leuchtturm von allen Seiten fotografiert, und zurück ging es ins Hotel.
03. Mai 2000 - Sonne 24°C
Die Nehrung
Heute ist mal wieder ein schöner und warmer Tag. Um 09.00 h nahmen wir unser Frühstück ein. Sehr lecker, sehr westlich und sehr skandinavisch.
Dann ging unser Dünenmarsch los. Welch grandiose, ja bizarre Landschaft. Auf 60 m bringt es die höchste der Dünen, und von dort genossen wir den atemberaubenden Blick auf das Haff zur einen Seite und zur Ostssee auf der anderen Seite. Der kluge Wanderer sorgt vor, und so hatten wir ein wenig Verpflegung mitgenommen. Nach einem schönen Schläfchen in der Sonne gab es erst mal etwas gegen den Hunger. So schön. Leider war kein Kellner bereit, uns ein schönes Mittagessen nach oben zu bringen, und so gingen wir langsam wieder nach Nidden zurück und speisten erstklassig mit Blick auf das Haff - das hier auch schon sehr italienisch wirkt. Bernd pflegt danach wieder der Ruhe, und ich wanderte quer durch die ganze Nehrung. Tolle Birken- und Kiefernwälder mit allen Geräuschen des Waldes und am schönsten: Menschenleer! War das ein Genuss! Schnell noch eine ganze Tasche mit Tannenzapfen gesammelt - der nächste Weihnachtsbaum steht ja schon vor der Tür - und ab an den Ostseestrand zum Sonnen. Ganze 4 Menschen innerhalb des Blickfeldes zu sehen, na klasse. Klamotten runter und let's brat again.
Gegen Abend ging ich dann zurück, und wir fuhren zum alten Fischerfriedhof, zum Thomas Mann Museum - sehr schön gelegen - und noch italienischer. „Dorthen" schlichen wir uns mit einer deutschen Gruppe mit in das Haus - das extra wegen dieser Gruppe geöffnet wurde. Es dauerte auch gar nicht lange, da wurde ich schon entlarvt. Das Durchschnittsalter der Gruppe lag wohl bei 341 Jahren, und da muss man ja auffallen. Aber alle Zimmer hatte ich gesehen, ja so kann man wohnen...
Spät wurde dann in der Bucht geradezu fürstlich gespeist - eine wunderbare Kate mit Kamin und sehr leckerem Fisch.
Ein Tag, der sehr beeindruckte und unbedingt zu den "Weißt Du noch Tagen" gezählt werden muss. Harmonisch, ruhig, genüsslich und ausgeglichen, frei von Stress und alle seine Sorgen vergessend, wie oft hat man solche Tage?!
04. Mai 2000 - Sonne 23°C
Abschied von der Nehrung
Nach dem Frühstück packten wir gleich unsere Sachen und fuhren noch mal an den Ostseestrand. So ein schöner Tag muss genutzt werden. Bernd relaxte, und ich wanderte am Strand bis zur russischen Grenze (STOK!). An der Grenze, nur ein gelbes Plastikband, fragte mich ein russischer Grenzsoldat, ob ich wohl vor hätte, weiter zu wandern? Ich verneinte und überschritt die "gelbe Plastikgrenze", setzte mich an den Strand rauchte eine Zigarette und genoss den kleinen Grenzverkehr ins Kaliningradske Oblaskie. So vergingen noch schöne Stunden am Strand, gefüllt von Muße und wunderbaren Gesprächen ohne Zeitnot.
Zurück ging es dann am frühen Nachmittag, über Schwarzort, wo ich mir unbedingt einen tollen kurischen Windrichtungsmesser kaufen wollte und es auch tat. Mastercard sei Dank! Ein edles, teures aber sehr schönes Souvenir. Der Platz dafür ist auch schon anvisiert.
Mit der Fähre über das Haff ging es dann zum vorerst letzten Mal nach Memel, wo wir eine ausgeprägte Sightseeingtour starteten. Vom alten Theaterplatz durch die teils hoffnungslos verfallenen Viertel - aber auch hier wurde und wird schon kräftig renoviert - und so ist diese Altstadt ein schöner Trost für die entsetzliche Vorstadt mit den vielen Hochhäusern aus alten Zeiten. Plansozialistisches Baugut der Kategorie III. Für Westaugen ist das nicht gerade ein Genuss - aber selbst hier wird und wurde renoviert, ausgebessert und sichtbar in die Zukunft investiert.
Eine Tatsache, die uns eigentlich fast überall ins Auge fiel: Hypermoderne Tankstellen, Restaurants, Häuser, gut gekleidete Menschen, Luxusautos im Kontrast zu alten Katen, Ziehbrunnen, alten Mütterchen wie aus dem Film, Pferdewagen. Ein Land voller Gegensätze. Litauen, wie haben wir dich genossen.
Erwähnenswert ist noch unser "Überfall" auf ein durch Zufall entdecktes chinesisches Restaurant. Wir bestellten mit Händen und Füßen 5 verschiedene Gerichte für 2 Personen, und der Wirt war begeistert über einen solchen Appetit. Für sage und schreibe 23 DM haben wir uns schier überfres.... und kugelten uns fast zum Hotel zurück. Hier schloss sich nun der Kreis unserer Reise in die Vergangenheit - die eigentlich doch auch der Zukunft zugewandt war, und nun ist auch diese Zeit schon wieder
Vergangenheit. Es ist eben alles im Fluss.
Wir bedauerten den Abschied vom Memelland. Nicht ein Tropfen Regen - immer Sonne - Land und Leute um Klassen besser als vermutet, alles war ein echter Genuss und so fiel uns der Abschied trotz der späten Stunde doch ein wenig schwer. Nach 32 Stunden bei einer ruhigen Überfahrt erreichten wir Deutschland am 06.05.2000 um 06.00 h morgens.
Bei blauem Himmel und schönstem Sonnenschein ging es dann vom Kieler Osthafen nach Stade.
Was uns bleibt, sind all die vielen Erinnerungen und Erlebnisse, die Verbundenheit mit diesem Landstrich und der unbedingte Vorsatz noch einmal mit mehr Zeit hierher zurückzukommen.
Vielleicht mal mit dem Rest der Familie? Einfach so zum Kaffee verabreden in Laudszen oder Jugnaten oder Heydekrug oder Memel. Was für eine Idee. Aber nichts ist unmöglich!
Allen Mitwirkenden und freundlichen Unterstützern dieser Reise unseren herzlichen Dank für die vielen Informationen, Pläne und Fotografien.
Stade, 08. Mai 2000
Diesen bewegenden Reisebericht hat Peter Krakow aus Hechthausen bei Stade über seine Erlebnisse in der Zeit vom 27. April 2000 bis zum 06. Mai 2000 aufgeschrieben.
(Einige der Fotos in diesem Bericht stammen aus dem Jahr 2012, als Peter Krakow seine zweite Reise in die Vergangenheit machte.)