Maldininker

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Name

Die Worte Maldininker oder Surinkimininker sind abgeleitet von litauisch malda/ prußisch madla = Gebet und surinkimas = Versammlung. Maldininkas ist der Teilnehmer an einer christlichen Gebetsversammlung, oder auch ein Pietist. Der Pietismus entstand in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert und fand gerade in Ostpreußen sehr viele Anhänger, deren ursprünglich heidnische Bevölkerung in den Gottesdiensten einen Mangel an gefühlvoller Frömmigkeit verspürte. (Eine analoge Bewegung gab es in Masuren, deren Laienprediger Gromadki genannt wurden). Der Ausdruck "Maldininker" hat einen spöttelnden Nebensinn bekommen und wird von ihnen selbst nicht angewendet, ist aber sonst gang und gäbe. Auf deutsch nennen sie sich am liebsten Bruder, bzw. Schwestern, auch Gebetsversammler, Erweckte, Bekehrte. Die Fernerstehenden gebrauchen die Namen „Fromme", „Heilige", „Mucker". In keinem deutschen Lande (1902) ist das religiöse Vereins- und Sektenwesen so entwickelt als in Ostpreußen, nirgends tritt es so offen hervor als hier. Und gerade von den Maldininkern kann man so Widersprechendes aus dem Leumund von allerlei Leuten hören.

Geschichte

Zinzendorf hatte nach Gründung seiner Herrnhuter Gemeinde bereits 1727 die ersten Missionare in alle Welt geschickt. Diese sollten den Christen und zwar den verlorensten Stämmen eine andere als die orthodoxe Lehre predigen, die bei den meisten kein christliches Leben im Gefolge zeitigte. Ein heiliger gottgeweihter Lebenswandel, tätige Liebeswerke, Buße, inniges Versenken ins Erlösungs- und Bekehrungswerk, pflichtgetreue Arbeit in Acker und Garten, Haus und Hof, das waren ihre Ziele; daneben wurden die Äußerlichkeiten bald zu Hauptsachen: Meiden von Tanz, Theater, Tabak, geistigen Getränken, lustigem Wesen, lautem Lachen und dergleichen. In den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts finden wir solche Herrnhuter Missionare bei den Kaschuben. Geistesgewaltige Priester gehen auf ihre Lehre ein, zumal fromme Patrone, Rittergutsbesitzer und deren Witwen und gealterte Schwestern, die Herrnhuter Brüder mit Freuden in ihr Schloß aufnahmen.

Um dieselbe Zeit nun hatte Friedrich Wilhelm I. die Salzburger nach dem abgelegenen, durch Krieg und Pest entvölkerten Preußisch-Litauen gerufen. Die um ihres Glaubens willen Vertriebenen brachten schon ein lebendiges Christentum mit, die Herrnhuter Wanderprediger suchten es recht auszubauen. Bereits 1733 kamen die Missionare Demuth und Böhnisch und hielten Gebetsversammlungen ab, noch zwei andere, Hof er und Grenzer, werden namhaft gemacht. Ein Salzburger Siedeler, Namens Goffer, hatte solchen in der Insterburger Gegend beigewohnt und lernte litauisch, um auch unter diesem Volke solche Zusammenkünfte zu veranstalten.

Drei Lehrer: Demke und die Brüder Jurkschat, wirkten nun, als geborene Litauer, um Insterburg und Tilsit. Es entstanden, wie man damals in den Kirchenbüchern schrieb, "große Erweckungen weit und breit". Die volkverständlichen, auf ein inniges geistliches Leben gerichteten Reden konnten deshalb große Erfolge erzielen. Dies aber um so mehr, als die predigenden Brüder, Lehrer, Geistlichen nicht nur mit den Worten, sondern auch mit den Werken voranleuchteten.

"Wie kann ich unter trunksüchtiger Bevölkerung mit Erfolg bekehren, wenn sie mich selbst mein Gläschen Wein trinken sehen; sie nennen mich Heuchler, beneiden mich und glauben mir nicht; darum trage ich selbst das Zeichen gänzlicher Enthaltsamkeit, das blaue Kreuz, als das treue Vermächtnis eines aufgegebenen und doch geretteten Säufers", so sprach kürzlich ein den Maldininkern zugetaner Prediger im Gumbinner Kreise.

Und was er vom Trinken sagte, übte er auch in Bezug aufs Rauchen, ja selbst aufs Tanzen und den Besuch anderer als religiöser Zusammenkünfte, er verurteilte sogar den Gustav-Adolfs-Verein, und die wissenschaftlichen Reden in religiösen Verbindungen, im Jünglings- und Hausväterverband; sie lenkten den Sinn ab von dem einen, was not tut. "Entweder das Wort Gottes hat die Kraft, selig, d.h. glücklich in Zeit und Ewigkeit zu machen, oder es hat sie nicht.

Gesangbuch

Nun war im 18. Jahrhundert bei den Preußisch-Litauern eine merkwürdige Unsicherheit in Bezug auf das Gesangbuch eingetreten. Die alten, meist schlecht übersetzte litauische Lieder enthaltenden Gesangbücher wurden von verschiedenen Seiten verändert. 1732 erschien die Quandt-Behrendtsche Bearbeitung, die später Schimmelpfennig im Umfang von 400 Liedern herausgab, 1736 unternahm Glaser eine neue Zusammenstellung; sie erlebte innerhalb dreier Jahre drei Auflagen. Als man 1751 beide vereinigte und die Unzufriedenheit dennoch fortdauerte, gab 1781 Ostermeier eine neue Umarbeitung heraus, die gleichfalls befehdet und von Mielcke durch eine verbesserte ersetzt werden sollte. Und jeder Pastor dichtet neue Lieder für seine Gemeinde hinzu. Die "Brüder" gaben ihnen darin nichts nach. Durch die Herrnhuter war jenen eigenen rhythmischen, hüpfenden und beweglichen Gesängen der Boden geebnet worden, die so ganz zur Sangweise der Dainos passen und im Gegensatz zum schweren Kirchengesang der orthodoxen Kanzelredner des 17. Jahrhunderts stehen. Die schwebenden unfesten Töne in Halb- und Viertelston-Entfernung, das Überziehen zur nächsten Note, das Abkürzen von Pausen, das Anklingen an Volkslieder, das alles kam zur rechten Geltung. Benjamin Schmolck, Bogatzki u. a. wurden übersetzt; die Erleuchteten dichteten selbst, so die oben erwähnten Demke und Jurkschat. Bereits um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ließ der Bruder Mertikaitis für die Maldininker ein eigenes Gesangbuch, "das Psalmbuch" erscheinen, das 113 Lieder enthielt. Im Gegensatz zum litauischen offiziellen Gesangbuch erfreute sich das Psalmbuch trotz der frömmelnden Art und trotz der Riesenlänge mancher Lieder, großer Anerkennung und Beliebtheit. Die neuen Auflagen wurden rasch vergriffen und erschienen in vermehrter Auflage. Von gewisser Seite wurde das Psalmbuch freilich nicht für vollwertig gehalten. Mielcke sagte: "Es hat ein gewesener Soldat und Litauer aus der Niederung ein litauisches Gesangbuch (um 1800) auf seine Kosten herausgegeben. Er hat darin verschiedene Gesänge aus dem Ostermeierschen Gesangbuch genommen, viele aber selbst gedichtet, und wiederum andere von schlechten litauischen Schulmeistern übersetzte zusammengerafft und unter die Litauer gebracht. Es kommen darin die absurdesten Dinge, übertrieben mystische Ausdrücke, närrische Epitheta und ganz abgeschmackte Wendungen vor, die dem vernünftigen Gottesdienst des Singens zuwider sind." (Vergl. Schwede, Zur Geschichte der litauischen Gesangbücher. Lit Lit M. III, S. 403.) Derartige Urteile verhinderten nicht, daß die Psalmu knygos 1876 in 12. Auflage im Umfang von 404 Liedern erschienen.

Prediger

Die Prediger waren meist Bauern, die im Herbst nach Beendigung der Ackerarbeit ihre Missionstätigkeit aufnahmen. Es waren gewöhnlich tüchtige, strebsame Ackerleute, die ihr Besitztum gut verwalteten. Sie nahmen nie Lohn an, blieben bei der Lehre der Bibel und empfahlen noch Arnds wahres Christentum und Bogatzkis Schatzkästlein. Viele Pfarrer waren auf ihrer Seite, so der Ragniter Superintendent Malkwitz. Jener Soldat, den Mielcke erwähnt, war vielleicht der Bruder Dargys. Der eignete sich vorzüglich zu seinem Amte und erlebte dann auch die Blüte der Gebetsversammlungen. Er hatte sich durch eigenes eifriges Lernen in wissenschaftlichen und geistlichen Büchern tüchtig vorbereitet, hatte 1813 die Freiheitskämpfe mitgemacht und zog nun wie ein Sendbote von Dorf zu Dorf; er benutzte außer geistlichen auch philosophische Bücher, berief kraft seines Ansehens die Maldininkerprediger in Synoden zusammen, setzte ab und ein und wurde von allen anerkannt. Ein Schiffer aus der Memeler Gegend, Klimkus Grygolait, wurde auf einer Reise nach England „erweckt". Er hatte Visionen, sagte, Gott hätte ihn zu seinem Rüstzeug auserwählt, daß er seinem Volke Buße predige. 1807 zog er in die Grenzgegend zwischen Memel und Schmalleningken, in die Ortschaften um Wischwill und Eydtkuhnen. An der Scheschuppe und am Njemen wurden Gebetsversammlungen abgehalten, die Klimkenaten wuchsen täglich an Zahl; Preukschat wirkte in der Tilsiter Pflege, Albuschait in der Ragniter, wie Dr. Gaigalat in einem Vortrage über die Maldininker ausführte.

Die 1848er Verfolgungen brachten auch ihm Einkerkerung seitens des Tilsiter Landrats. Dies Martyrium erhöhte nur seinen Ruhm. Zudem erlangte Malkwitz nicht nur die Freilassung des Dargys, sondern auch einen königlichen Befehl Friedrich Wilhelms IV., der eine Geldentschädigung gewährte. Dargys, der willig und ohne Murren ins Gefängnis gezogen war, schlug dies Geldgeschenk aus und lehrte vor wachsender Zuhörerschar. Die Verfolgungen wirkten wie im Urchristentum, das Martyrium wurde vorbildlich und erweckte neue Bekennen. Das Oberkonsistorium tat den rechten Schritt und liefe die Unschädlichen gewähren. Eine mildere Richtung unter Jurkunas gestattete sogar mäßigen Genuß von Tabak und geistigen Getränken. Schlimmer war Klimkats Schüler Petrick, der das Alte Testament als Lehrgrundlage betrachtete, noch gefährlicher dessen Schüler Sonder, der folgerichtig das Alte Testament auch ins Leben umsetzen wollte, seine Frau verstieß und mit seinen Mägden in Vielweiberei lebte. Er forderte den Zehnten von seinen Gläubigen, hatte drei grofse Reiseboote, auf denen die Prediger missionierend auszogen und ließ sich wie einen Patriarchen verehren. 1848 traten eine Anzahl Brüder aus der Landeskirche aus, die meisten blieben ihr treu, spalteten sich aber in zwei Lager. Die alte Richtung bewahrte ihre alte Freiheit.


Versammlung

In der Versammlung, die in eines wohlhabenden Bruders Behausung stattfindet, singen sie zunächst ein Lied aus den Psalm u Knygos. Dann knieen sie nieder auf den Fußboden, und der Verkünder betet lange und laut. Nun steht man auf, der Gebetsversammler liest und erklärt einen Bibelabschnitt. Kniegebet und Schlußlied folgen.

Tetzner gibt von einer solchen Zusammenkunft ausführlicher Bericht:

Die „Verkünder" waren zuerst nach Ruß und dann nach Kahlberg zu einem „Bruder" gefahren. Nach einstündigem Marsche gelangten auch wir an das erleuchtete große Wohnhaus. Lauter Choralgesang tönte uns entgegen. Beim Eintritt ins Innere war rechts ein Doppelzimmer mit etwa 50 Frauen und 20 Männern gefüllt, die erst im Gebet knieend, dann auf Bänken und Stühlen sitzend, die eigentümlichen litauischen Choräle sangen. Die Melodie „Liebster Jesu wir sind hier" war so verändert, daß man sie kaum wiedererkennen konnte. Die ineinander verschwimmenden Töne schlugen zitternd leis immer noch eine Quarte nach oben nach, die Übergänge zu den nächsten Noten schwankten in kleinsten Tonzwischenräumen selbst über die kurzen Verspausen, gleichzeitig sangen die Deutschen den deutschen, die Litauer den litauischen Text. Die Männer waren einfach und gewöhnlich in Bauerntracht gekleidet, die von der allerorts üblichen nur durch das breite russische Mützenschild abweicht. Marginnen und Paresken sah ich nicht. Die Frauen trugen dieselben einfachen gestreiften Bauernröcke, wie allerwärts; nur die weißen blumenrandigen Kopftücher, die am Halse oder meist im Nacken zusammengebunden waren, stachen hervor, zumal die drückende Hitze des 1. August nicht die Abnahme jenes Kopfschmuckes zu bewerkstelligen vermochte. Der Raum war ziemlich hell durch Deckenlampen erleuchtet, nur auf dem Predigttische brannte eine Setzlampe. Ich wurde vorderhand ins linke Zimmer geführt, man wartete auf mein Kommen. Da saßen denn schon mehrere Verkünder und Freunde beisammen, der Hausherr begrüßte uns und lud uns zum Abendmahl ein, da gab es Bier, Kaffee und Milch, Brot, Fleisch und Früchte vorzüglich und in Hülle und Fülle. Galant gewährte man meiner Frau einen Ehrenplatz, und nach kurzem Imbiß gingen wir in die Versammlung und erhielten unseren Sitz, trotz Sträubens, auf der Bank der Prediger. Über das lange und harte Knieen auf Holzdiele oder Stein sehen die Brüder ebenso leicht hinweg, wie über die Filzpantoffeln des einen Verkünders. Kukat saß am Tische, neben ihm je ein Bauernpriester. Nach dem Gesänge des Chorales betete der Linke ein deutsches Gebet von der Sündhaftigkeit und Buße der Menschen, worin sich ein fortwährendes Stöhnen sündenbeladener Gemüter mischte. Es folgte ein neuer Choral, der mit der-elben Inbrunst und in Gott versenkter Miene zu Ende gesungen ward, und dann eine litauische Predigt und der Gesang des Liedes: „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend.“ Nun erhob sich Kukat, las die Geschichte von Pauli Bekehrung aus der Bibel vor, wie sie jeder tüchtige Pastor vorlesen kann, und ergriff dann das Wort zur Predigt Kukat ist ein bedeutender Redner. Es fließt aus seinem Munde ohne Anstoß und Versprechen. Es folgten der Reihe nach von Seiten der anderen Verkünder ein langes seufzerreiches litauisches, dann ein deutsches Gebet und das Vaterunser; zum Schlusse sang man: „Unsern Ausgang segne Gott", und zerstreute sich nach einem stillen Gebet. Ein Bruder gab uns das Geleit nach unserer eine Stunde entfernten Wohnung. Eine abermalige Einladung zur Gebets Versammlung anderen Tages früh 6 Uhr konnten wir nicht annehmen, weil wir Ruß und seine Umgegend kennen lernen mußten. Auf dem Nachhausewege nachts 11 Uhr erklangen von den Bänken vor der Haustür die schwermütigen Dainos, einzeln und im Wechselsang, hier und da beim Klange der Ziehharmonika.

Die neue Richtung trägt gescheiteltes Haar, ausgesucht einfache Kleidung in Schwarz und Weiß, verwirft mit der farbigen Marginne alles Bunte und haßt die abschweifenden volkstümlichen Erklärungen. Man betet still im Versammlungszimmer beim Ein- und Austritt. Man singt das dreimal Heilig, und die Predigt erstreckt sich nur auf Ermahnung und Spruchwiederholung. Die Alten tadeln an den Neuen: Starrheit der Lehre und Sucht , äußerlich aufzufallen , diese umgekehrt an jenen: Menschensatzung und Abweichung von der Heiligen Schrift. Gemeinsam ist beiden ein tugendhaftes Leben, das den Gerichten nichts zu tun gibt, ferner die eifrige Unterstützung des Missionswerkes, der häufige Genuß des Abendmahls. Die Verkünder dagegen predigen nur, geben an, Visionen zu haben und durch Handauflegung Kranke heilen zu können. Sie bilden sich selbst aus, sobald sie glauben, Gott habe ihnen das Predigtamt gegeben. Sie stehen in hohem Ansehen bei den Brüdern und wissen es sich auch zu erhalten. Gegenwärtig (1902) steht an der Spitze der bekannte Christoph Kukat, ein ehemaliger Besitzer in der Tilsiter Gegend, der mehrere Kirchen sein eigen nannte. Er ist schon in ganz Deutschland als Wanderlehrer thätig gewesen, ward einmal für irrsinnig erklärt, erhielt aber schließlich vom Oberkirchenrat die Erlaubnis zum Predigen. Er leitet die religiöse Wochenschrift „Friedensbote" (Pakajaus Paslas), die Vereinsschrift des Ostpreußischen Gebetsvereins. Diese erscheint in einer Auflage von reichlich 500 in Memel, hat zur Hälfte litauischen, zur Hälfte deutschen Text.

Aus dem Munde der Litauer selbst hörte ich die widersprechendsten Urteile über das Tun und Treiben der Surinkimininker und ihre Predigten. Die Übelgesinnten sagen ihnen Muckerei und Scheinheiligkeit nach, schlimmere Zungen sprechen im Gegensatze zu der gerühmten Keuschheit von „Kindervereinen" und nannten die Verkünder Betrüger oder schlaue Schelme. Sie zögen zur Herbstzeit aus, weil da die Gläubigen geschlachtet und gebacken hätten. Ihr Wirken sei nicht unschädlich. Dem gegenüber sagen ernste Männer: Die Maldininker wirken nur Gutes, vermeiden politische Streitigkeiten; Uneinigkeiten schlichten sie durch eigene Schiedsgerichte, sie geben den ablegenen Dörfern mit der geistlichen geistige Nahrung und sind Träger der Kirchlichkeit und des Opferwillens.

Eine Missionsfahrt

Einst traf ich eine ganze Gesellschaft Maldininker auf einem Memelschiffe. In schwarzer Tracht, Landpastoren ähnelnd, kamen sie zusammen, reichten sich die Hände und küßten sich. Sie waren auf einer Missionsfahrt von Tilsit nach Ruß und Schwarzort begriffen. Die „Verkünder" waren zuerst nach Ruß und dann nach Kahlberg zu einem „Bruder" gefahren.

Früh 10 Uhr sollte die Missionsfahrt der Maldininker nach Schwarzort stattfinden. Schon in der Frühe kamen von allen Himmelsrichtungen zu Fuß und zu Floß, Wagen und Boot die Litauer, um am Feste teilzunehmen. ½ 12 Uhr langte der gemietete Dampfer aus Tilsit an, war aber bereits so mit Anhängern überladen, daß niemand mehr mitbefördert werden sollte. Nun zogen die stundenweit Herbeigeeilten ergeben in ihr Los nach Hause. Ich aber drängte mich vor, die seltene Gelegenheit nicht zu versäumen. Kein Mensch konnte sitzen und sich bewegen, so war das Schiff vollgestopft. Heute waren viele Litauerinnen aus Minge und Kinten, Skirwith und Inse, Heydekrug und Loye in ihrer Tracht erschienen. Über den 10 bis 20 gebauschten, reichgefalteten kurzen Unterröcken befand sich der selbstgewebte vierzigfaltige Oberrock, buntfarbig, die drei Hauptfarben bevorzugend, langgestreift, neu. Einzelne hatten aus der Swirne den grünseidenen Rock geholt und darüber gezogen. An der rechten Seite hing das seiden- und perlengestickte Handtäschchen. Die Schürze ähnelte dem Oberrocke, war aber meist noch flimmerdurchwirkt und wies ein reichgesticktes oder blumig gewebtes lang wallendes Band auf. Der Oberkörper war von einem weitärmeligen Hemd bekleidet, das am Hals- und Ärmelbund, wie am Lätzchen seidene Stickerei aufwies. An der Brust prangte eine große Brosche aus Bernsteinperlen. Ein ärmelloses sammtnes Schnürleibchen schloß sich über dem Oberrocke an. Auf dem Kopfe der Jungfrauen befand sich über dem kranzartig gewundenen Zopfe ein grüner oder blumiger Kranz und bei den Frauen noch ein eigen gefaltetes Tuch. In der Hand ruhte Gesangbuch, Taschentuch und Majoranstrauß, die Verlobte trug am Mittelfinger den Goldring. Die lettischen Mädchen Schwarzorts und Niddens haben dieselbe Tracht, nur ist der Oberrock nicht bunt, sondern schwarz. Im Gespräch mit ihnen stellte sich nun bald heraus, dafs so mancher und manche nicht der Bekehrung, sondern des schönen Ausfluges wegen mitfuhr. Sie hatten einen guten Grund, um sich von zu Hause loszureißen, hörten dem Missionsgottesdienste einige Minuten zu und gingen dann, befreundet oder verliebt, in die schönen Anlagen Schwarzorts, die vom Haff bis zum Baltischen Meere die Düne durchqueren. Der Missionsgottesdienst fand auf einer prachtvollen Waldwiese inmitten alter Föhren und Fichten statt. Gegen 800 Männer und Frauen hatten sich versammelt, inmitten stand der Predigttisch; Verlauf und Inhalt boten nichts, was von dem am vorigen Tage Gehörten besonders abgewichen hätte. Einige der Bauernpriester fuhren abends 8 Uhr mit nach Tilsit zurück, andere zogen zu den Brüdern der nächsten Dörfer, Kukat blieb vorläufig in Ruß. Ich nahm den Eindruck mit, daß die Leute trotz mancher Absonderlichkeiten tüchtige und brauchbare Menschen sind, der Nutzen, den sie bringen, Jedenfalls größer als der Schaden ist und üble Nachreden wohl einmal von einem, aber sicher nicht angesichts der Gesamtheit der Wahrheit entsprechen; über die Aufgabe und den Zweck des Lebens freilich haben sie eine verkehrte Ansicht. Früh 5 Uhr erreichten wir Tilsit. Die ganze Nacht hindurch aber erklang der schmelzende Gesang der Burschen und Mädchen, bald deutsch, bald litauisch. Und noch lange tönten mir die Lieder im Ohre:

„Mein Herz ist ein Schränkchen,
Kein Schlüssel hängt dran,
Doch in Tilse wohnt einer,
Der allein herein kann."

Quelle: ’’’TETZNER’’’, Franz: Die Slawen in Deutschland, Braunschweig 1902, S.65-74.

Schilderungen

""Mutter", sagte er schließlich, "mach doch zeitig Abendbrot, ich will nachher noch in die Gebetsversammlung." ... Da mochte er nur hingehen. Der fromme Schneider Baltruwitt hielt alle Sonnabendabend und am Sonntagvormittag diese Versammlungen ab. Der war nun auch zu den Budwills gekommen und hatte sie gebeten, daran teilzunehmen. "Brüder", hatte er gesagt, "wir müssen zusammenhalten in Gebet und Gottesfurcht. Wir brauchen nicht die Predigt von der Kanzel. Da stehn nur die falschen Propheten, die sollen uns nicht fangen. Wir heilen uns selbst mit dem göttlichen Evangelium.- Bruder", hatte er dann weiter gesagt und sich an den triefäugigen Michel gewandt, "wir wissen, daß du dem Trunk ergeben bist. Aber wir stoßen dich nicht von uns. Wir suchen dich. Wir wissen, du bist früher ein guter Mensch gewesen und kannst auch wieder gut werden, wenn du bloß das Heil gewonnen hast und im Buch des Lebens stehst. Und dann wirst du mithelfen an unserer großen Mission."

Eine volle Stunde hatte er geredet, und schließlich hatte die Erdmute gesagt: "Geh mal hin, Michel. Du hast allen Grund zu beten und dein Leben zu bessern." Und sie schickte ihn hin, aber die Guste mußte mitgehen, damit er nicht etwa im Kruge landete. Doch die Erdmute selbst und der Erdmann waren nicht zu bewegen gewesen, dorthin zu gehen. Auf das Drängen des Baltruwitt hatte sie nur sehr nachdrücklich gesagt: "Die beiden können kommen und für die ganze Familie beten. Uns selbst laßt schon beten, wo wir so lang gebetet haben, wir haben noch nich gemerkt, daß uns das was geschadet hat."

Der Michel aber und die Guste waren bald mit Hingabe dabei. Außerdem war es auch hübsch, mit so vielen Menschen aus dem Dorf zusammenzukommen. Mitunter blieb man nach der Gebetsstunde noch zusammen und erzählte sich von spukhaften Träumen und seltsamen Erscheinungen. Da kroch einem ein Schauer über alle Glieder, so daß man schließlich den dunklen Heimweg fürchtete. Dann kam der Sohn des Baltruwitt mit, der sich sehr an die Guste hielt. Die Guste hatte in der Muckerversammlung etwas zu bedeuten. Sie besaß zwar keine schöne, dafür aber eine sehr durchdringende Stimme, und so war sie die unentbehrliche Stütze des frommen Gesangs geworden. Das gab ihr geradezu eine Ausnahmestellung. O, sie war nicht dumm, sie verstand es trotz aller Bescheidenheit, sich in den Vordergrund zu stellen. Sie hatte dort einen ganz besonderen Augenaufschlag gelernt, und es war ihr richtig klar geworden, daß es ein frommes Gesicht und ein Alltagsgesicht gab.

Gar zu gern hätte sie einmal die hübsche, forsche Schwester mitgebracht, da hätten die schon Augen gemacht, mit der konnte einer schon prahlen. Aber da war nun ein Haken, die Minna schob sich Kämme ins Haar. In der Gebetsversammlung trug aber kein "Bekehrter" Kämme. Da mußte man sich das Haar fest an den Kopf striegeln, und weil die Minna sich weigerte, wie ein gelecktes Kalb zu gehen, mußte sich die Guste diesen Wunsch versagen. Der Minna stand auch keineswegs der Sinn nach den frommen Brüdern und Schwestern."

Quelle: Charlotte Keyser: In stillen Dörfern, Gräfe und Unzer, Königsberg 1939


"Sie beschließen also, den frommen Taruttis zu besuchen und zu sehen, ob es lohnt, sich in die Gemeinde der Erleuchteten aufnehmen zu lassen. Der fromme Taruttis empfängt sie mit Freuden. "Ich habe schon oft gebetet", sagt er, "daß ihr den Weg zum Heile findet möget, und nun ist mein Gebet erhört." .... Erst müsse ein Sündenverzeichnis hergestellt werden. Und bei dem öffentlichen Bekenntnis werde die ganze Gemeinde Gott auf den Knien um Vergebung anflehen. Das habe noch immer geholfen. Jons und Erdme sehen sich an. Sie haben es zwar oft schon mitgemacht, aber nun sie selbst daran glauben müssen, wird es ihnen doch fürchterlich sauer. Der Taruttis legt auch gleich ein Blatt Papier auf den Tisch, macht eine römische Eins und sieht sie erwartungsvoll an. Da nimmt Erdme das Wort und sagt: "Damit das Bekenntnis ganz vollständig wird, wollen wir uns im einsamen Kämmerlein gehörig kräftigen. Sonst könnte es geschehen, daß etwas fehlt, und das würden wir uns nie verzeihen". Der fromme Taruttis lobt den Ernst ihrer Bestrebungen und ladet sie zur nächsten Versammlung. Und dann gehen sie heim.

"Nein", sagt Erdme entschieden, "damit die Leute hernach mit dem Finger auf uns weisen: ´Da seht das verstohlene Pack.´ Das könnte mir passen." .... Auf alle Fälle machen sie jetzt das Verzeichnis. Der Mann, dem sie die Saatkartoffeln ausbuddelten, bekommt die erste Nummmer. Und dann folgt eine sehr lange Reihe. Einzelnes bietet Schwierigkeiten. ... Heu für die Ziege .... Abgebranntem .... Versicherungsgesellschaft .... Veruntreuung auf dem Holzplatz .... Möbeltischler .... Schlimme Sache! Schlimme Sache! Trotz alledem gehen sie ans Werk. Der Jons bringt Postanweisungen und Linienpapier, und nun schreiben sie einen Brief nach dem anderen, gerade so, als ob sie wirklich bei den Gebetsleuten eintreten wollen. .... Aber in zweifelhaften Fällen vermeiden sie der Sicherheit halber, ihren Namen anzugeben. ....

Als die Briefe und die Postanweisungen weg sind, wird ihnen beiden sehr wohl zumut. Die Ersparnisse haben sich zwar erheblich vermindert, aber statt dessen hilft ja der Moorvogt. Darüber vergessen sie ganz, daß sie auf der nächsten Versammlung der Gebetsleute das Sündenbekenntnis ablegen sollen. .... Da hören sie mit einem Male feierlichen Gesang. "Es wird ein Begräbnis sein", meint die Erdme. Aber der Gesang kommt immer näher, und was sehen sie? Der fromme Taruttis und zwei andere fromme Männer gehen zwischen den Kartoffeln geradewegs auf sie zu, und jeder hält ein Gesangbuch in der einen Hand und sein Schnupftuch in der anderen, und eine Mütze hat keiner auf. O Gott, wie wird ihnen da! Weglaufen können sie nicht, und Ausreden haben sie auch nicht. .... "Lieber Nachbar und ihr anderen geehrten Gäste", sagt sie und macht ein scheinheiliges Gesicht, "seit wir unseren Entschluß kundgetan haben, prüfen wir uns unaufhörlich, aber es will uns gar keine Sünde einfallen. .... Darum lasset uns Zeit, ein Monatchen oder ein Jahrchen - oder noch mehr, damit wir ein gehöriges Bekenntnis zusammenkriegen. Vielleicht sündigen wir inzwischen auch noch was Neues, und das ist dann gleich ein Abwaschen." ....

Darauf wissen die frommen Männer nichts zu erwidern und heben sich wieder von hinnen. Und Jons geleitet sie bis an den Grenzgraben, dorthin, wo das Brett ´rüberführt. Wie er zurückkommt, sieht er, daß Erdme die beiden Kleinen im Arm hat und liebkost. Dann läßt sie sie fallen, hebt beide Fäuste hinter den Weggehenden her und ruft ganz laut: "Meinen Töchtern die Heirat verderben, das wär euer ganzer Segen, ihr Schufte!" Der Jons ist beinahe erschrocken. Nie hätte er gedacht, daß sein Weib so böse sein kann."

Quelle: Hermann Sudermann: Jons und Erdme in Litauische Geschichten, Aufbau Verlag Berlin und Weimar, 1979