Traditionen
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Traditionen
Von Gerhard Krosien
In einem anderen Land
Gerettet! 1945 am 7. März: Die 74jährige Großmutter, ihre 30jährige unverheiratete Tochter, nämlich Tante Trude, ihre 35jährige Schwiegertochter mit vier Kindern im Alter zwischen elf und drei Jahren. Mit dem, was sie gerade auf dem Leib tragen. Kein Gepäck - außer einer abgegriffenen Leinentasche mit wichtigen Dokumenten um den Hals der Mutter. Und wohin? In ein kleines niedersächsisches Städtchen am Rande des Teufelsmoores, das von der Kriegsfurie unberührt zu sein scheint, von dem niemand von ihnen bis dahin etwas gehört oder gewusst hatte. In karger, ungastlich wirkender Umgebung, in rauer Witterung, mit ungewohnt fremdartig klingendem Dialekt und abweisenden Menschen. Diejenigen, die ungebeten in „ihre Welt“ strömenden deutschen Flüchtlinge aus dem Osten vielfach als „Flüchtlingspack“ bezeichnen und denen sie Obhut und von ihrem Bisschen auch noch etwas abgeben sollen. Der Familienvater ist nicht dabei. Er ist irgendwo in Ostpreußen an der Front. Wo? Nicht bekannt!
Seit Ende Juli 1944 ist diese Familie - in Etappen - aus ihrer angestammten Heimat, dem Memelland, vor der heranrückenden rachelüsternen Roten Armee - vor dem Russen, wie man zu sagen pflegt - auf der Flucht. Zuerst - wie jemand sie daheim zu beruhigen versucht hat: nur vorübergehend, - nach Osterode in Ostpreußen, dann weiter nach Pommern - nahe Plathe - und nun hierher. Jetzt soll Schluss sein damit. Hoffentlich! Gott sei Dank, sie sind offenbar in Sicherheit! Und das ist die Hauptsache!
In Sicherheit? Der Krieg ist noch nicht aus! Tagtäglich Fliegeralarm! Tagtäglich - und das oft gleich mehrmals - tauchen diese beiden teuflischen britischen Jagdflugzeuge am Himmel über der Stadt auf. Sie nehmen mit ihren Bordwaffen alles aufs Korn, was sich da unten am Boden bewegt! Nicht allein Menschen! Auch Tiere, die sich ahnungslos irgendwo aufhalten! Ist es Mordlust bei den Piloten? Oder wollen sie nur zeigen, wer in der Luft jetzt das Sagen hat? Oder machen sie sich bloß einen „Spaß“? Einen bluternsten Spaß! Blanker Terror ist's! Die Menschen sind jedenfalls auf der Hut. Sie suchen sich jedes Mal geschwind ein Versteck, wenn sie es noch können. Tiere bleiben meist auf der Strecke. Das Leben „danach“
Dann das Kriegsende am 8. Mai 1945. Die „Tommies“ feiern auch hier - abends mit Leuchtraketen und ohrenbetäubender Ballerei - ihren Sieg über Hitlerdeutschland. Aber in was für einem Szenarium rundum! Für längere Zeit!
Hunger! Überall ist wenig zu essen da, manchmal gar nichts. Und das bisschen Vorhandene ist auch noch rationiert! Lebensmittelkarten. Armut! Weil kaum einer in der Bevölkerung etwas hat. Nicht die Einheimischen, weil die hier nie reich waren und während der Kriegszeit noch mehr verarmt sind. Nicht die Ausgebombten, deren Habe durch Bombenhagel zerstört wurde und die ihr Leben aus den größeren Städten hierher gerettet haben. Schon gar nicht die Flüchtlinge, die all ihr Hab und Gut in ihrer bisherigen Heimat zurücklassen mussten oder es während ihrer Flucht verloren haben, die nur ihre Haut retten konnten. Wohnungsnot! Fast alle Häuser in den Städten liegen in Trümmern, sind größtenteils unbewohnbar. Die Einheimischen hier, die das Glück hatten, dass ihre Häuser nicht den Bomben zum Opfer fielen, müssen jetzt oft zusammenrücken, um für die Ausgebombten, Flüchtlinge und Evakuierten ein Unterkommen zu ermöglichen, eine noch so notdürftige Bleibe. Das gibt oft böses Blut! Arbeitslosigkeit! Weil kaum ein Betrieb arbeitet, wenn es Betriebe in dieser Gegend überhaupt jemals gegeben hat. Inflation! Für Reichsmark ist kaum etwas zu kaufen. Sie ist quasi wertlos. Tauschhandel überall, mit allem und jedem, Schwarzmarkt. Wer nichts zu tauschen hat, ist dumm dran! Es gibt zu der Zeit viele Dumme, meistens die Flüchtlinge, die kaum etwas für den Schwarzmarkt besitzen. Suche! Nach Verwandten, nach Freunden, nach Bekannten, nach Nachbarn, nach Kindern, nach Eltern. Rechtlosigkeit! Die Sieger bestimmen, was Recht ist. Auch einige, die bis dahin rechtlos waren, tun das nun. Rachsucht ist oftmals Trumpf, oft an Unschuldigen! Größerer oder kleinerer Mundraub erscheint legal. Diebstahl wird von vielen Menschen vielfach nicht als Unrecht angesehen! Genommen wird doch eh nur von denen, die's scheinbar haben. Die Armen schonen sich. Von ihnen ist ja auch nichts zu holen. Würdelosigkeit! Kinder betteln auf offener Straße. Erwachsene balgen sich um von den alliierten Soldaten fortgeworfene Zigarettenstummel. Mädchen prostituieren sich für eine Tafel Schokolade oder für Zigaretten bei den damals für sie „freigiebigen“ Besatzungssoldaten. Volle Kirchen! Viele Menschen versprechen sich nicht allein seelischen Trost und Rat, sie hoffen auch auf materielle Hilfe von dieser Seite. Mehr als einmal müssen sie sich von der Kanzel allerdings auch Meldungen über Kriegstote oder über Kriegsfolgetote anhören, nicht nur Strafpredigten über ihre „Schwäche“ in der jüngsten Vergangenheit!
Not überall! Not als Alltag! Durcheinander!
Not macht erfinderisch
Genau in dieser Situation trifft Tante Trude, deren Verlobter im Krieg geblieben ist, eine Entscheidung! Denn tiefer als jetzt kann es ja für sie nicht mehr gehen! Also muss sofort etwas geschehen!
War sie in ihrer Jugend handwerklich nicht geschickt? Werken in der Schule war doch ihr Lieblingsfach! Das ging ihr gut von der Hand. Solange sie sich erinnern kann, war ihr Vater doch - wie alle seine Vorfahren, die seit Generationen in Russ am Memelstrom, später, ab ihrem Großvater, in Memel-Schmelz gelebt hatten - Handwerker gewesen, nämlich Seiler. Wie oft hatte sie miterlebt, wenn er abends am Familientisch Papiere vor sich liegen hatte, in denen er angespannt herumschmökerte oder herumhantierte und mit krauser Denkerstirn auch mal etwas schrieb. Wie oft hatte sie ihn draußen in ihrem langen Hof hinter dem Haus Seile drehen sehen, schöne Seile, gleichmäßig und stark! Wie stolz war er immer gewesen, wenn er am Ende all seines Tuns ein fertiges Seil vor sich liegen hatte! Er ließ es sich nie nehmen, „sein Werk“ dem Auftraggeber persönlich zu überbringen. Und natürlich den ausgemachten, ehrlich verdienten Lohn dafür zu kassieren! Als Handwerker war er doch immer selbstständig zu denken und zu handeln gewohnt! Schließlich hatte er doch mit seiner Hände Arbeit eine große Familie zu ernähren. Und das tat er auch! Sogar einen bescheidenen Wohlstand konnte er im Laufe der Zeit erarbeiten! Die Begriffe „Risiko“ und „Chance“ waren für ihn keine Fremdworte. Nicht für ihn, nicht für seine Vorfahren konnte das der Fall gewesen sein! Setzte er ja deren traditionellen Familienberuf mit Erfolg fort. Standen bei ihrer Familie nicht Fleiß und Tatkraft seit Generationen auf der Tagesordnung? An all das musste Tante Trude denken.
„Also muss das jetzt auch bei mir klappen!“, war damals ihre feste Überzeugung.
Aus Stoffresten, aus aufgetrennten Lastenfallschirmen der deutschen Wehrmacht, aus gesammelten Holzstücken, aus allen möglichen anderen Materialien fing sie an, Tag für Tag, Nacht für Nacht bunte Knüpftaschen, beliebte Tiere, kuschelige Puppen und viele andere schöne Dinge zu machen. Alles in beklemmender räumlicher Enge. Sie fragte diesen, sie fragte jenen nach der Zusammensetzung von Materialien oder nach ihr bis dahin unbekannten Bearbeitungstechniken. Sie probierte und produzierte! Rastlos und zielstrebig. Ihre „Erzeugnisse“ wurden mehr und mehr.
Eines Tages packte sie dann alles zusammen - und verschwand wortlos. Mehrere Tage blieb sie weg. Dann war sie aber wieder zurück. Und mit ihr etwas zu essen, was zuvor für alle der Familie als unerreichbare Köstlichkeit gegolten hatte: Speck, Eier, Butter. Tante Trude hatte ihre „Produkte“ irgendwo gegen Naturalien eingetauscht. Erfolgreich eingetauscht, wie alle nun sehen konnten! So konnte die Familie wenigstens überleben. Und das war zunächst einmal am wichtigsten!
Jede Hand wird gebraucht
Eines Tages kehrte auch der Familienvater aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zur Familie heim - in die Fremde. Es war ihm gelungen, aus dem Gefangenenlager bei Danzig zu fliehen. Mit ihm hatte die Gruppe nun zwar einen Esser mehr, aber auch einen, der jetzt für Ordnung in der Familie und fürs Überleben mitsorgen konnte. Hatten doch alle Familienmitglieder ihre ganz bestimmte Aufgabe zugeteilt bekommen, und zwar entsprechend ihrem jeweiligen Leistungsvermögen: Die einen sammelten im Wald Äste, andere stachen und schichteten im Moor Torf für den Winter, andere gingen auf den abgeernteten Feldern Kornähren „stoppeln“ (sammeln), wieder andere standen stundenlang Schlange vor Läden oder wechselten sich dabei ab, um ein paar Heringe, etwas Gemüse, Wurstbrühe oder bloß etwas Magermilch zu bekommen, die ganze Familie sammelte im Herbst Beeren und Pilze, andere „besorgten“ dies oder das, die Mutter und die Großmutter nähten oder strickten etwas für die Kinder. Alle hatten damals alle Hände voll zu tun!
Handel bringt mehr ein als Arbeit
Für den Familienvater war zu der Zeit an eine geregelte Arbeit nicht zu denken, schon gar nicht im erlernten Lebensberuf in der Verwaltung. Aber mit dem Tauschen, das ging! Damit ging es sogar besser als erwartet! Vater hatte nämlich goßes Glück, dass einer seiner Kriegskameraden in Solingen eine kleine Stahlwarenfabrik besaß und sich damals mit einem Teil seiner wertvollen „Bestände“ bei ihm im „Bauernland“ Niedersachsen einnistete. Von seinen Schätzen - Stahlwaren - gab der Solinger ihm als Entschädigung für seine Bleibe einen Teil davon ab. Mit solch begehrter „Handelsware“ ging es - was die Versorgung der Familie betraf - recht gut bergauf! Denn viele Bauern - mit denen hatte man es in jenen Jahren vorwiegend im Sinn - waren scharf auf solche Stahlwaren. Konnten sie sie doch im regulären Handel schon lange nicht mehr - schon gar nicht für Geld - bekommen!
Tante Trude erkannte ihre Chance gleich! Sie erweiterte ihr bisheriges „Sortiment“ kurzerhand um Stahlwaren. Natürlich mit großem Erfolg - damals.
Hilfe zur Selbsthilfe
Inzwischen hatte sich für die Familie auch vieles gebessert. Aus Amerika kamen bald Pakete mit Altkleidern, die Verwandte dort bei der Bevölkerung eingesammelt hatten. Alles wurde so abgeändert, dass es irgendeinem aus der Familie passte. Tante Trude vergaß bei all dem ihrer Familie zuteilwerdenden Segen nie andere, denen es immer noch schlecht ging - und die keine Verwandten in Amerika hatten. Sie gab einfach etwas „von dem Reichtum“ ab, besonders an notleidende Kinder.
Eine Tante in Amerika erinnerte sich wohl an den eigenen Pioniergeist und den Pioniergeist ihrer Vorfahren aus längst vergangener Zeit und handelte entsprechend: Sie, eine eingefleischte Vegetarierin, schickte eine große Holzkiste voll Sämereien. Die Familie staunte nicht schlecht, als sie statt der erwarteten Altkleider - wie bisher gewohnt - nun so etwas sah! Alle erkannten aber rasch die Absicht der Tante: Hilfe zur Selbsthilfe sollte das sein! So wie der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. den Salzburger Exulanten, einiger Vorfahren Tante Trudes und der amerikanischen Verwandten, seinerzeit bei ihrer Ansiedlung im Memelland Starthilfe gegeben hatte. Noch mehr staunten alle aber, als sie dann im Spätsommer und im Herbst das Ergebnis ihrer gärtnerischen Betätigung mit den Sämereien der Tante sahen: Rotblühende, zarte Stangenbohnen, lange, gelbe Erbsenschoten an übermannshohem Rankengesträuch, kohlkopfgroße Salatköpfe, riesig lange Schlangengurken, noch nie gesehene, mehrfarbige, übergroße Kürbisse! Mit der Familie staunte so mancher Gartennachbar. Sie alle erhielten auf Wunsch Sämereien der nun in Deutschland eingebürgerten Gartenfrüchte. Auch für jeden von ihnen eine gute Starthilfe!
Zeitenwende
1948 wurde dann alles viel besser! Mit der Währungsreform hatten die Menschen - wenn auch nur wenig, so doch wieder wertvolles - Geld in ihren Händen. Und es bestand überall großer Nachholbedarf. Tante Trude nutzte die Gunst der Stunde. Sie mietete nun einen kleinen, bescheidenen Ladenraum in der Kleinstadt an - ohne protziges Schaufenster für Auslagen. Und dann postierte sie ihre „Kostbarkeiten“ auf rohe, selbstgezimmerte Regale - zum bequemeren Anschauen gedacht und jetzt sogar mit Preisschildern versehen.
Es geht aufwärts
Vieles brauchten die Menschen sogleich, weil sie es lange Zeit nicht hatten bekommen können, zum Beispiel Stahlwaren. Und sie kauften sie daher. Anderes konnten sie sich erst mit steigendem Wohlstand leisten, zum Beispiel Tante Trudes Puppen, Keramik-Erzeugnisse, Holzfiguren und sonstige „eigentlich unnütze“, aber schöne Gegenstände. Auch die kauften sie später. Tante Trude machte gute Geschäfte. Aber sie arbeitete dafür auch hart!
Was man hat, hat man
Manchmal wird Tante Trude gefragt, wie sie solch schöne Sachen mache, die anderen Menschen so gefallen, dass sie sie ihr abkaufen. Ihr, die das Kunsthandwerk doch überhaupt nicht erlernt habe, sondern den Beruf einer Verkäuferin! Dann lächelt sie nur verschmitzt: „Ja, gelernt habe ich sowas nie. Aber ich habe halt ein bisschen Talent und geschickte Hände. Dazu noch einen Schuss Geschäftssinn, den man dazu braucht. Damals - 1945 - musste in dieser schrecklichen Notlage, in der wir alle steckten, doch etwas geschehen! Von nichts kommt nichts! Vieles habe ich hier und da gesehen. Und wenn es mir gefiel, habe ich es nachgemacht - oft zweckmäßiger und hübscher als das Vorbild. So einfach ist das! Und da vieles auch anderen Menschen gefiel, kauften sie es bei mir. Viele wussten aber auch so von meinen Fertigkeiten und gaben mir ganz bestimmte Aufträge, die ich offenbar immer zu ihrer Zufriedenheit erledigte. So wurde aus meiner Begabung mein eigentlicher Beruf! In dem ist es mir finanziell eigentlich immer gut gegangen. Ich sehe diese Entwicklung darum als glückliche Fügung des Schicksals, als einmalige Chance, die ich, Gott sei Dank, in schwerer Zeit genutzt habe. Ich kann getrost sagen, seitdem ging es ständig nur bergauf! Sicherlich habe ich auch immer das berühmte Quäntchen Glück gehabt, das jeder zum Erfolg braucht. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“
Insel "Heimatfrieden"
Heute lebt Tante Trude als Rentnerin in ihrem kleinen, gepflegten Häuschen am Stadtrand. Ihr Ladengeschäft hat sie schon lange einem „seelenverwandten“ Menschen übergeben, der „solide arbeiten kann und keine „Grillen“ im Kopf hat“, wie sie sagt. Hier draußen hat sie sich als kleinen Ersatz für die verlorene Heimat, wie sie mit wehmütigem Blick wissen lässt, aber „ihr eigenes Reich“ geschaffen. Mit über 80 Jahren hält sie alles allein in Schuss. Und sie macht alles so, wie sie es für richtig hält, wie es aber ganz offensichtlich auch anderen gefällt. Schon in ihrem Hof-Garten, den man durch eine oben abgerundete, dunkle Holzpforte zwischen Haus und Garage betritt, begrüßen einen dicke grüne Frösche aus Stein, porzellanene bunte Enten und schwarz-grün-gelbe steinerne Schildkröten in unterschiedlicher Größe, Art und Haltung. Alles Naturmaterial und selbstgemacht - wie man sieht! Aus dem Gartenteich unterhalb der drei Stufen zur Haustür hin quaken aber lebendige Frösche, und funkelnde Libellen sonnen sich lauernd dort auf den verschiedensten Wasserpflanzen. Im bräunlichen Wasser ziehen einige Fischlein ihre Bahnen, und einige Wasserschnecken weiden unterhalb der Wasseroberfläche im Algenteppich umher. Im Gebüsch rundum hopst, raschelt und piepst es. Der Besucher verweilt ungewollt und erfreut sich an alledem. Alles hier vermittelt eine heile Welt, ein herzerfrischendes Biotop.
Unterhalb der Klingel dann die - man erkennt das sofort - in Handarbeit hergestellte tönerne rotbraune Tafel mit Vor- und Nachnamen von Tante Trude, neben der Haustür ein riesiger, stabiler Hausbriefkasten, in den so einiges hineinpasst. Darunter ein mit einer Klappe verschließbares dunkelbraunes Rohr für die alltägliche Zeitung.
Nach dem Schellen anhaltendes Hundegekläff aus dem Innern und oft von irgendwoher aus dem Haus der Ruf: „Geduld, Geduld! Ich komme ja schon! Murkel, halt's Maul!“ Kurz darauf steht die Tante mit einem großen, schwarzen Pudel an ihrer Seite in der geöffneten Tür, kerzengerade, grauhaarig, hager, meist so, als ob sie gerade eben irgendwo aus einer Arbeit herausgerissen worden ist, aber immer freundlich, Ruhe verbreitend!
Da staunt der Fachmann ...
Anschließend - im Haus - ist man meistens baff: Im Hausflur, im Abgang zum Keller und ins Untergeschoß, im Treppenhaus nach oben, in allen Zimmern offene Schrankwände oder Regale! Und in allen Fächern steht etwas, an allen Wänden hängt etwas, auf allen freien Flächen überall im Haus liegt oder steht etwas! Aus unterschiedlichsten Materialien, in unterschiedlichster Form und Farbe, mit unterschiedlichster Wirkung auf den Betrachter. Hier reizt es das Auge, ein Bild in Öl oder in anderer Maltechnik längere Zeit zu betrachten, da verführt ein Gegenstand schon von seiner Gestaltung her die Hand, ihn anzufassen, ihn durch die Finger und die Hand gleiten zu lassen, ihn zu begreifen, dort wieder ist es ein rustikal bemalter Bauernschrank, der die Neugierde, aber auch die Hochachtung des Betrachters vor ehrwürdiger, solider Volkskunst weckt. Alles von Tante Trude selber gemacht oder bearbeitet!
Im Untergeschoss hat Tante Trude immer noch eine Werkstatt. Komplett, wie jeder Heimwerker sagen würde! Über einer Werkbank reiht sich in wohltuender Ordnung Handwerkszeug an Handwerkszeug. Einiges kennt jeder von seinem eigenen „Bestand“ und „Hausgebrauch“, anderes ist vielen fremd. Dazu lagern dort unten Materialien in allen möglichen Variationen, Farben, Größen und Bearbeitungsstadien, Zubehör aller Art, Neues wie Altes. Aber alles wohlgeordnet - ganz offenbar nach einem bestimmten System. Hier arbeitet Tante Trude ganz offensichtlich heute noch! „Nur noch für mich! Oder wenn ich etwas Spezielles für einen besonders guten Freund mache“, lacht sie nur kurz, wenn sie danach gefragt wird.
Endzeiterwartung
In letzter Zeit beobachtet Tante Trude, wo sie auch gerade steht oder sitzt, so manchen ihrer Besucher heimlich aus den Augenwinkeln heraus. Unvermittelt sagt sie zu dem, dessen Interesse einem ihrer „Lieblinge“ offensichtlich etwas länger gilt: „Nimm's schon mit. Dir gefällt's doch. Ich weiß das bei dir in guten Händen. Und wenn ich dann einmal nicht mehr bin, hast du so einen Grund, mal an mich zu denken oder jemandem von mir zu erzählen. Das wäre schön.“ Kein Sträuben hilft da! Der Gegenstand wird sorgfältig eingepackt und „geht mit“! So etwas ist bei Tante Trude eine Auszeichnung, die nicht jedem zuteil wird! Die irgendwo in ihrem Haus so freigewordene „Stelle“ ist hinterher rasch wieder durch ein anderes ihrer Kunstwerke „besetzt“.
Tante Trudes Philosophie
Wer Tante Trude fragt, ob sie heute ein solches Wagnis wie damals noch einmal eingehen würde, sieht sie für einen Moment nachdenklich. Dann hat er sich aber etwas anzuhören, was ihn in Erstaunen versetzt: „Meine Entscheidung damals war aus der blanken Not geboren. Das Szenarium war dabei seinerzeit alles andere als rosig für mich und unsere ganze Familie. Hilfe von irgendeiner Seite bekam ich nicht, ich meine eine Subvention, eine Starthilfe oder so was. Nichts als mein Talent, meine „Mitgift“ von meinen Vorfahren, deren Pioniergeist und meinen Mut hatte ich. Das war mein Startkapital!
Ich weiß heute genau, dass zu den damaligen Problemen im Laufe der Jahre viele neue Probleme hinzugekommen sind, zum Beispiel zerstörerische Rauschgiftsucht, menschenverachtender Terrorismus, brutale Kriminalität, soziale Ungerechtigkeit, Bauernsterben auf breiter Ebene, Abtreibungsprobleme und überhaupt die Stellung der Frauen in unserer Gesellschaft, Aussteigermentalität gerade bei vielen Leistungsfähigen, oft ungerechtfertigter Ausländerhass, weltweit hohe Kindersterblichkeit, rücksichtsloser Egoismus, so manche bewusste Meinungsmanipulation Besserwissender, bedenkenlose Umweltsünden, Gesetzesuntreue auf vielen Gebieten, atomare Sicherheitsrisiken und anderes mehr.
Einige Problembereiche, die mich damals sehr bedrückt haben, sind inzwischen aber auch weggefallen oder haben sich mit steigendem Wohlstand abgeschwächt. Teilweise, wie beispielsweise bei der derzeitigen Wohnungsnot oder bei der Arbeitslosigkeit, sind bei dem allgemein herrschenden Überfluss heute andere Gründe maßgebend.
All diese Schwierigkeiten sind mir sehr bewusst. Andererseits sehe ich aber auch, welche Rahmenbedingungen im Laufe der Zeit geschaffen wurden, welche Hilfen und Hilfsmittel heute eine Existenzgründung begünstigen und ein Überleben absichern. Ein Ausruhen auf der vielzitierten sozialen Hängematte käme für mich auch heute bei den bestehenden Bedingungen nie in Frage! Ich würde den gleichen Schritt von damals wieder tun, heute eher als damals! Seinerzeit war die Not der Anlass für mein Handeln; als Flüchtlinge hatten wir doch eh nichts. Heute wäre ein solcher Schritt für mich die wohlüberlegte, zielgerichtete Gestaltung meiner Zukunft, nicht die Not. Während es damals eigentlich nur bergauf gehen konnte - tiefer ging's ja nicht mehr -, müsste ich heute meine Chancen sorgfältig bedenken und gute Sicherungen in meine Entscheidung einbauen! Das ist der Unterschied zwischen damals und heute! Aber wagen, wagen würde ich's noch einmal! Ein Ostpreuße vergisst die „Mitgift“ seiner Vorfahren nicht! Und verzagt in der Not nie! Viele Spätaussiedler und in der früheren Heimat Gebliebene sind das beste Beispiel dafür!“