Zwischen Memelstrom und Ostfluß (Szeszuppe)

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Kartenausschnitt von Hartigsberg, Trappen, Memelwalde, Friedenswalde, Waldheide, Kreis Ragnit, Ostpreußen, Stand 1937.
Aus dem Messtischblatt: Kreis Schloßberg, 1:100 000, Zusammendruck 1956, Stand 1937.
© Bundesamt für Kartographie und Geodäsie



Christoph I, die letzte Bastion

(Fortsetzung aus Nr. 27, Seite 26 - 30) von Walter Broszeit [1]

Unter dem Deckmantel einer Druschkolonne und in abgetragenem Zivil wurde das ganze Südufer der Memel von Hartigsberg über Trappen, Memelwalde, Friedenswalde bis Waldheide erkundet, um sich für die große vaterländische Aufgabe vorzubereiten. Die Tagesmahlzeiten wurden den ganzen Herbst über bis Weihnachten und Neujahr in den verlassenen Gehöften in Trappen zubereitet und eingenommen. Die Kartoffelkeller waren ja gefüllt, Schweine, Kälber und Geflügel hielten sich in den eigenen Höfen auf, wo sie noch genug Nahrung hatten. So konnte sich die Besatzung von Christoph I nach Belieben gut bedienen und sparte noch dazu die Bunkervorräte. Wenn die einstweilige Frontruhe auch recht angenehm erschien, sah Landsmann Endrus mit seinen Mannen in jeder Nacht ein Stück mehr seines Heimatdorfes und der Nachbardörfer in Schutt und Asche sinken.

Am Tage ausgemachte Ziele nahm die russische Artillerie nachts unter Beschuss und nicht selten wurden die Ziele auch getroffen. Während die deutsche Luftwaffe hier überhaupt nicht mehr auftrat, war die russische Luftwaffe Tag und Nacht präsent und nahm alle verdächtigen Bewegungen oder auch sonst vermeintlichen Ziele unter Beschuss oder belegte diese mit ihrem Bombensegen. Dass dabei nicht nur einzelne Häuser, sondern auch ganze Höfe dem Erdboden gleich gemacht wurden, lag im Interesse des Gegners. Damit sollten die Unterkünfte der deutschen Truppen zerstört und die Bewegungen behindert werden. In einer einzigen Herbstnacht wurden von der Bunkergruppe im Kirchspielbereich von Trappen 11 Brände gezählt. Es war nicht ratsam, in solchen Häusern zu übernachten, in denen am Tage der Schornstein geraucht hatte.

Die Besatzung von Christoph I war davon nicht betroffen, denn sie war nachts meist als Beobachter unterwegs oder schlief im sicheren Bunker. Die durchziehenden deutschen Gruppen konnten meist rechtzeitig vor diesen Feuerüberfällen gewarnt werden.

In diesen Monaten gab es keinerlei echte Aufgaben für diese Geheimtruppe, und so beschränkten sich die Meldungen an die Zentrale nur auf die ständig anhaltenden Störungen. So kam der Winter ins Land und stellte mit eintretendem Schneefall auch die Besatzung von Christoph I vor ein noch unbekanntes Problem. Bei jedem Schneefall bestand die Gefahr, die Bunkerlage oder gar den Haupteingang durch Spuren zu verraten. Es mussten erst die Gestelle um den Bunker mit vielen Spuren begangen werden, dann vermehrt Spuren um den Bunker herum gelegt werden, und nur eine Spur, in die alle zu treten hatten, durfte zum Haupteingang des Bunkers und daran vorbei führen, von der aus der Bunker betreten werden musste. Das war eine so anstrengende Aktion, dass die Mannschaft danach unbedingt einige Stunden Ruhe brauchte und an jedem Morgen froh war, dass es nicht von neuem geschneit hatte. Weihnachten 1944 und Neujahr 1945 wurden im Bunker begangen, und die ganze Besatzung einschließlich Kommandant hatten aufgrund der Radionachrichten mehr Anlass zur Sorge als zu ausgesprochener Freude. Die deutschen Truppen hatten diesen Bereich bereits geräumt, um nicht auch hier abgeschnitten zu werden.

Am 13. Januar 1945 überschritten die russischen Streitkräfte im Raum Hartigsberg bis Waldheide kampflos die zugefrorene Memel und besetzten die Walddörfer südlich der Memel. Alleinstehende Häuser und Gehöfte außerhalb der Ortskerne wurden, soweit sie nicht schon zusammengeschossen waren, durch Brand oder Sprengung beseitigt. Diese Maßnahmen sind offenbar aus dem übersteigerten Angstgefühl zur eigenen Sicherheit getroffen worden, und es war daraus zu folgern, dass diese Truppen hier als Besatzung und zur Sicherung dieses Gebiets verbleiben würden.

Da nun der eigentliche Auftrag der Bunkerbesatzung überhaupt erst beginnen sollte, gab es jetzt jedoch fast noch weniger als vorher zu berichten, weil nennenswerte Truppenbewegungen gar nicht stattfanden und die Anfragen der Zentrale per Funk auch nur noch selten und sehr kurz gestellt wurden. Die Vermutungen der Bunkerbesatzung wurden bald bestätigt, da Bewegungen kleinerer Gruppen nach Westen und Südwesten nur der Erkundung der Umgebung dienten, denn diese Gruppen kehrten noch am gleichen Tage oder am nächsten Tag wieder zurück. In der zweiten Hälfte Januar und im Februar machte unser ostpreußischer Winter sich wiederum recht nachhaltig bemerkbar und die schon geübte Spurenlegung musste nun des öfteren praktiziert werden. Gleichzeitig aber wurde beobachtet, dass auch die russischen Besatzungskräfte eine merkwürdige Aktivität entwickelten, um anscheinend nun auch die nähere Umgebung zu erkunden. Äußerste Vorsicht war jetzt geboten, denn auch die geringste Spur einer möglichen Entdeckung musste vermieden werden. Eine warme Speisezubereitung mit einem Spirituskocher im Bunker konnte nur vorgenommen werden, wenn draußen ein Posten die Umgebung und die versteckten Entlüftungsrohre beobachtete. Auch die Notausgänge mussten jeden Tag gängig gehalten werden, was ebenfalls nicht einfach war. Trotz aller Vorkehrungen waren Überraschungen nicht ausgeschlossen. Deshalb wurden die Ausgänge immer von zwei Mann mit schussbereiten Waffen geöffnet. Nach längerer Pause ohne Neuschnee, im Februar 45, war die Umgebung des Bunkers mit einem Verwirr an Spuren im Altschnee angehäuft, dass kaum zu erkennen war, woher die Spuren kamen und wohin sie führten. Doch waren diese Spuren nicht so unbeachtet geblieben, wie die Bunkerbesatzung vermutete. Eines Vormittags öffneten zwei Mann den Haupteingang des Bunkers und es erstarrte ihnen vor Schreck fast das Blut in den Adern. Keine zehn Schritte von diesem Eingang standen abgewendet drei russische Soldaten, bewaffnet, in einem sehr angeregten Gespräch. So leise der Ausgang geöffnet worden war, wurde er sofort bis auf einen Spalt von einigen Millimetern geschlossen. Während der eine Mann die Russen im Auge behielt, alarmierte der zweite Mann die ganze Besatzung. Nach etwa acht Minuten, die der Bunkerbesatzung länger als eine Stunde vorkamen, zogen die drei Russen ohne sich zum Bunkerausgang gewendet zu haben ab. Anscheinend hatten diese drei Russen trotz der Nähe diesen Bunkerzugang wohl wegen des Spurengewirrs nicht ausgemacht. Niemand konnte froher sein als die Bunkerbesatzung, dass es nicht zu einer offenen Begegnung gekommen war, denn eine solche musste zwangsläufig für eine der beiden Parteien tödlich sein. Die Bunkerbesatzung hätte im Falle der Entdeckung die Zugänge sofort schließen können, was jedoch in wenigen Stunden die Aushebung oder Sprengung des Bunkers und auf alle Fälle den Tod der ganzen Besatzung zur Folge gehabt hätte. Die Überwältigung der drei Russen wäre die andere Möglichkeit einer Lösung gewesen, da die Bunkerbesatzung in der Überzahl war und auch den Vorteil der Überraschung gehabt hätte. Ein Vertrauen darauf, dass die Entdecker dieses Geheimnis für sich behalten und es nicht ihrer Dienststelle melden, wäre ebenfalls eine tödliches Risiko gewesen, weil keine Sicherheit bestanden hätte, inwieweit die drei Entdecker nach ihrer Rückkehr überhaupt einander vertrauen konnten. Die drei Russen mit ihrem Geheimnis laufen lassen und dann den Bunker sofort verlassen, mitte Februar bei Frost und Schnee und mit wenig Lebensmittel, hätte auch nur eine kurze Zeit das Überleben ermöglicht. Die Besatzung war daher erleichtert, nicht auch noch vor diese Probleme gestellt worden zu sein. Absolute Sicherheit, dass der Stützpunkt nicht entdeckt war, bestand trotz des ganzen Ablaufs nicht. Deshalb verließ die ganze Mannschaft mit Verpflegung versehen für einige Tage diese Unterkunft und hielt sich im Freien auf. Der Bunker wurde aus sicherem Versteck ständig beobachtet, ob sich etwa weitere Russen in der Nähe des Bunkers sehen ließen. In diesen Tagen kam der durchnässten und durchgefrorenen Bunkerbesatzung die Natur zur Hilfe. Der Frost ließ nach, Tauwetter und Regen setzten ein und der verräterische Schnee schmolz dahin. Die Besatzung bezog wieder ihre Unterkunft und brauchte mehrere Tage, um sich von dem anstrengenden Aufenthalt im Freien zu erholen. Einige Tage stand ständig ein Posten, um bei irgendwelchen verdächtigen Wahrnehmungen zu warnen. Schon nach kurzer Zeit konnte auch diese Beschwernis eingestellt werden, weil der Schnee völlig abgeschmolzen war und kein Neuschnee fiel.

Die nächsten Wochen gingen ohne besondere Ereignisse dahin, die Tage wurden länger, die Sonne schien schon recht behaglich und es ging dem Frühling zu. Das sprießende Grün war sowohl für die Unterkunft als auch für die Bewegungen des Spähtrupps eine weitere Tarnhilfe. Aus den Radio-Nachrichten, auch sogenannten Feindnachrichten, war zu entnehmen, dass der Krieg mit der totalen Niederlage Deutschlands enden werde. Diese Erkenntnis wurde noch dadurch bestärkt, dass die Funkmeldungen von Christoph I nicht mehr bestätigt wurden und auch keinerlei Anweisungen mehr .eintrafen. Das sehr schöne Frühjahr 1945 ließ trotz aller Pracht der heimatlichen Natur bei dem verlorenen Haufen von Christoph I keine rechte Freude und noch weniger Zuversicht aufkommen. Niedergeschlagen und ratlos nahmen Kommandant Endrus und seine Mannschaft am 8. Mai die Nachricht über die Beendigung des 2. Weltkrieges und die Besetzung ganz Deutschlands auf. Der Zweck der geheimen Anlage Christoph I und der Auftrag seiner Besatzung war beendet, ohne dass die von den Organisatoren vermuteten Erwartungen auch nur im geringsten hätten erfüllt werden können. Papa Endrus, so nannte ihn seine treue Mannschaft, stellte allen seinen Männern frei, sich mit Lebensmitteln einzudecken und die Gruppe nach eigenem Gutdünken zu verlassen. Die Kameradschaft in diesem kleinen Kreis war inzwischen so ausgeprägt, dass nur gemeinsame Entscheidungen Zustimmung fanden. Mit täglichen Diskussionen über Auflösung des verlorenen Postens gingen die Wochen bis in den Juni dahin. Damit war aber auch die Zeit gekommen, in der günstigsten Jahreszeit die Wege in die an leichte Hoffnungen geknüpfte Freiheit anzutreten. Kommandant Endrus wollte einen seiner Leute in seinen Heimatort mitnehmen, doch dafür konnte sich keiner entscheiden. Die Mannschaft entschied sich dafür, dass sie zu zweit sich auf den Weg in ihre baltischen Heimatorte machen wollen, wobei nachts marschiert und tagsüber geschlafen werden sollte. So hofften sie, während der noch frischen Kriegswirren mit Unterstützung ihrer baltischen Landsleute ihre Angehörigen zu erreichen.

Am Abend des 10. Juni 1945 verließen der Kommandant und vier Mann seiner Besatzung in reichlich abgetragenem Zivil nach einer traurigen Verabschiedung die letzte deutsche Bastion „Christoph I" und gingen einem ungewissen Schicksal entgegen. Jede dieser Zweiergruppen hatte sich eine Legende zu eigen gemacht für den Fall, dass sie von russischen Besatzungskräften unterwegs ergriffen werden und für den Heimatort selbst. Auch die mitgenommene Verpflegung durfte keine Anzeichen aufweisen, dass sie aus deutschen Wehrmachtsbeständen stamme. Zwei Tage später wollten die restlichen vier Mann diese geheime Anlage verlassen und alle Zugänge auf gute Tarnung überprüfen und auch die letzten Spuren verwischen.

Kommandant Endrus schlug die entgegengesetzte Richtung ein und betrat am nächsten Morgen aus dem schützenden Forst den Ort Hirschflur (Giewerlauken), wo er auf einen Bekannten stieß, der von der Flucht zurückgekehrt war. Dieser erkannte Endrus nicht und machte einen sehr erschrockenen Eindruck, weil das Gesicht von Endrus von einem prächtigen Vollbart umrahmt war, bis er sich zu erkennen gab und erklärte, dass er auch von der Flucht heimkehre. Bei diesem Bekannten orientierte er sich auch über das Verhalten der Besatzungsmacht. Nach eintägigem Aufenthalt in der neuen Freiheit machte er sich auf der Chaussee in Richtung Trappen (Trappönen) auf den Weg. Etwa in der Hälfte des Weges kam die erste Überraschung. Eine russische, motorisierte Militärstreife, die auch in Richtung Trappen fuhr, holte ihn ein, und nach kurzer, mühsamer Verständigung nahm sie ihn mit und lieferte ihn bei der Kommandantur seines Heimatortes ab. Nachdem er einigen zurückgekehrten Ortsbewohnern gegenübergestellt worden war, wurde er freigelassen. Einige Wochen in einem anderen verlassenen Grundstück, nicht im eigenen Hause, hatte er sich wieder einigermaßen eingelebt und glaubte, dass er nun das Gröbste überstanden hätte. Inzwischen hatte es sich auch in der Umgebung herumgesprochen, dass Endrus auch von der Flucht heimgekehrt Ist. Durch einen Landsmann aus einem Nachbarort wurde der Besatzungsmacht verraten, welche zivilen Ämter er bis Kriegsende innegehabt hatte. Darauf erfolgte sofort seine Verhaftung, Er wurde durch alle Nachbarorte geschleppt und den wenigen, zurückgekehrten Landsleuten gegenübergestellt, ob diese etwas Nachteiliges über ihn sagen könnten, Mehrfach wurde er an die Wand gestellt, um so irgendwelche Aussagen zu erreichen.

Das Zuchthaus in Insterburg war dann für drei Jahre die nächste Station für den Kommandanten von Christoph I. Wäre diese letzte Position von Endrus bekannt geworden, hätte er mit Sicherheit das Zuchthaus nicht mehr erreicht. Während das weitere Schicksal der Kameraden aus dem baltischen Raum unbekannt geblieben ist, erreichte Endrus nach drei Jahren Zuchthaus, die er mit 60 Leidensgenossen überlebte, und einem halben Jahr im geschlossenen Lager die Bundesrepublik, wo er nur noch einen Teil seiner Familie, aber doch auch einige gute Freunde fand.

Trotz aller Enttäuschungen und leidvollen Erlebnisse hatte sich der Kommandant von „Christoph I", der letzten Bastion in unserer Heimat, die unverbrüchliche Treue und Verbundenheit zur Heimat erhalten, bis die Fluten der Ostsee seine sterblichen Überreste aufnahmen.
gez. Walter Broszeit



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  1. Dieser Bericht ist aus dem Museum von Jurij Userzow in Breitenstein.