Erzählungen von Gerhard Krosien aus Schmelz (Kr.Memel)/Hunger tut weh
Bitte beachten Sie auch unsere Datensammlung aller bisher erfassten Personen aus dem Memelland |
Wie angewurzelt steht er frierend da, der Blondschopf, der Memeler Bowke, von zehn Jahren, in der abgerissenen Joppe, in der kurzen Hose, in den langen braunen Zellwollestrümpfen, die an groben schwarzen Gummistrippen hängen, in den rauhen, knöchelhohen Schnürschuhen, die bis oben hin im Schnee stecken. Auf einer leichten Anhöhe im verschneiten Pommern, Februar 1945.
Die Augen des Jungen haben lange, lange Zeit nordwärts zum Horizont gestiert und sind bei Unverständnis ausdrückendem Kopfschütteln langsam herangewandert bis zum Fuß der Anhöhe: Eine lange, grau-grüne Schlange wälzt sich von fern her unaufhaltsam auf seinen Standort zu. Menschenleiber auf Füßen in grauen, braunen, grünen, dreckigen, zerlumpten Militärmänteln oder Uniformen, in Mützen oder barhäuptig, in Pelzkappen mit rotem Stern - sowjetische Kriegsgefangene - hohlwangig, stoppelig, tiefäugig, stolpernd, matt ... in das riesige Tor einer windigen Scheune ein- und zusammenfallend, nachdrängend, nicht enden wollend ... Dann doch Schluss! Tor zu, Wachen mit Gewehr davor!
"Das gibt`s doch gar nicht! So viele Menschen in einer Scheune! Das musst du aus der Nähe sehen!", denkt der Junge. Schon verschwindet der Blondschopf in den angrenzenden Kuhstall. Rasch ist ein loses Brett zur Seite geschoben, und der Kopf wird durchgesteckt. Er erstarrt fast! Keinen Zoll weit entfernt: Lebende Menschen überall, Gestöhne, Ächzen, Keuchen, mattes, gequältes Schnaufen, Strohrascheln, gedämpftes Gemurmel, Husten, dampfender Atem, Gestank! Eine Augenmeute jenseits der Bretterwand erfasst den Blondschopf - bannt ihn starrend! Stimmen, Wortbrocken reißen ihn aus seinem Bann: "Du gutt, chaben grosses Chunger, du geben Essen, Brott, Kartoschki, schnell, schnell!" Kreisende Hand- und Armbewegungen um Mund- und Magenbereich unterstreichen eindringlich die Not und die Eilbedürftigkeit - den Hunger in Menschengestalt!
Der Blondschopf fährt entsetzt und erschreckt zurück durch die Bretterwand in den Kuhstall. "Was machen? Du hast doch selbst nichts, was du geben könntest. Aber geschehen muss etwas!" Die Augen des Knaben wandern dabei den Gang des Kuhstalls entlang. Beide Seiten säumen in langer Reihe satte, wiederkäuende Rinder. Nach einigen Metern der Suche machen die Augen Halt - an einem ansehnlichen Haufen Steckrüben, für die Abendfütterung der Tiere bereitgelegt. Das ist die Lösung! Und schon wandern wieder und wieder jeweils zwei dicke Steckrüben durch die Bretteröffnung, von Fäusten gierig in die Scheune gerissen... Bald ist der ganze Steckrübenhaufen verschwunden. Jenseits der Bretterwand ertönt Schneide-, Brech- und Kaugeräusch, zufriedenes Grunzen. Eine rauhe Hand langt durch die Bretterlücke und streicht flüchtig über den erhitzten Blondschopf...
Gut zwei Monate später in Niedersachsen: Zerlumpt, verwildert und ausgehungert lungert derselbe Blondschopf mit einer Meute ebensolcher Altersgenossen am Rande eines baumumstandenen Platzes. Ein Konvoi schottischer Kampftruppen bezieht hier soeben Ruheposition. Hungrige Augen suchen nach einer Gelegenheit irgendetwas Essbares mit einem raschen Zugriff zu ergattern. Der Zwischenraum zwischen der Meute und dem möglicherweise lohnenswerten Objekt ist so bemessen, dass eine rasche Flucht mit einer Beute aussichtsreich erscheint. "Platsch" macht es plötzlich mitten unter den Knirpsen. Die weichen blitzartig ein, zwei Schritte nach hinten zurück. Vom nächsten Kraftwagen ist in dem überraschten Halbkreis ein langer, schlaksiger, dunkler Lockenkopf in Khaki-Uniform gelandet und in die Hocke gegangen. Zwei zusammengekniffene dunkle Augen wandern in Gesichtshöhe der angespannt Herumlungernden in die Runde. "You are hungry? Damned bloody war! Come on!" Eine winkende Armbewegung bedeutet: "Keine Gefahr!" Die Plane des Lastwagens fliegt beiseite, die hintere Klappe fällt. Ein Haufen kleiner, dreckiger Kinderhände greift wieder und wieder nach Päckchen, Dosen, Beuteln. Schon lagert eine kauende, schmatzende Runde um einen langen, schlaksigen, dunkeläugigen Lockenkopf in Khaki-Uniform. Und schluckt, was zu schlucken da ist. Nach langer Zeit wieder etwas Richtiges zu essen zu haben, satt zu sein! Das ist in der nächsten Zeit immer wieder so - eine glückliche Zeit! Auf dem Lagerplatz gibt es seitdem wieder viele glückliche Kinderaugen. Und kein anderer Khaki-Soldat geht in sauberer Uniform, mit schärferer Bügelfalte, mit leuchtenderem Hemd und in glänzenderen Stiefeln daher als der Lockenkopf! Dafür sorgen die Mutter des Blondschopfs und die Mütter aller anderen Knirpse.
Viele, viele Jahre sind seitdem vergangen. Was mag aus den sowjetischen Kriegsgefangenen, was aus dem Khaki-Soldaten geworden sein? Aus Knaben von damals sind jedenfalls alte Männer geworden. Die Zeiten haben sich gebessert. Viele sind heute satt, zu viele aber immer noch hungrig. Und Hunger tut weh! Wie wenig vermag da oft viel zu erreichen!