Erzählungen von Gerhard Krosien aus Schmelz (Kr.Memel)/Jedes Ende hat einen Anfang

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Am 31. Juli 1944 war meine memelländische Kinderzeit zu Ende. Evakuierung der Familie! Zuerst nach Osterode/Ostpreußen, dann in die Nähe von Plathe in Pommern, schließlich nach Bremervörde in Niedersachsen. Schwere Zeiten waren es nach 1945, nach Kriegsende, für mich - für viele. Nach viel zu kurzer, ungetrübter Kinderzeit im Memelland nun - wohl für immer - in fremder Umgebung! Die durch den schrecklichen Krieg ebenfalls ausgepowert war.

Die Heimatlosen hatten damals nichts, die Einheimischen nur noch wenig! Dazu war das Szenarium mies: überall Hunger, überall Armut, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Suche hier, Suche da, Rechtlosigkeit der Besiegten, Würdelosigkeit - schon bei den Kindern angefangen, bei den Erwachsenen oft Alltag -, Schwarzhandel, volle Kirchen, häufig aus Scham über im deutschen Namen Begangenes, oft aus Verzweiflung, aber vielmals einfach auch aus Hoffnung auf materielle Hilfe.

Die Flüchtlinge, die sich nun in der Fremde ein neues Zuhause schaffen mussten, blieben mit ihrem Herzen aber weiterhin ihrer früheren Heimat verbunden. Viele, auch wenn sie sich nicht irgendwie an eine Flüchtlingsorganisation banden. Doch viele, ob Memelländer, Ostpreußen, Westpreußen, Danziger, Pommern, Schlesier, Sudetendeutsche oder Deutsche von anders woher, organisierten sich regional und überregional. Sie trafen und treffen sich - meist regelmäßig -, um Freunde, Nachbarn und Bekannte wiederzusehen, um ihre heimatliche Kultur, ihr Brauchtum, ihre Sitten, ihren Dialekt, ihren früher gewohnten Alltag zu pflegen. Oft dienen ihnen Heimatzeitungen, Heimatbriefe oder Heimatblätter als wichtiges Sprachrohr, Informationsmittel und Bindeglied. Sie halten ihr Heimatrecht hoch, das allen Menschen dieser Welt für heilig erklärt worden ist. Sie helfen einander. Alles beredte Zeugnisse eines ungebrochenen Pioniergeistes! Den jeder in der früheren Heimat nie verlernt hatte, der es für sie wert ist, gerade jetzt hier in der neuen Heimat gepflegt zu werden. Tradition im wohlverstandenen Sinn!

Im Laufe der Zeit hat sich für die ehemals Heimatlosen in Deutschland vieles verändert. Die entwurzelten Menschen wurden größtenteils integriert und in der neuen Umgebung sesshaft. Aus uns Kindern von damals sind Seniorinnen und Senioren geworden. Wir erfreuen uns jetzt an unseren Kindern, so mancher von uns sogar an Enkeln. Viele von uns sind fern von ihrem Geburtsort aufgewachsen. Unsere Kinder und Enkel kennen das einstige Leben im Memelland oft nur aus Büchern und anderen Quellen oder aus Erzählungen der Eltern oder Großeltern. Die einen sind mehr, die anderen weniger an ihrer Herkunft interessiert. Die neue Umgebung hat sie geprägt. Die Nachgeborenen fühlen sich längst nicht mehr als Flüchtlinge, zum Beispiel - wie wir - als Memelländer, obwohl sie von memelländischen Vorfahren abstammen. Sie nehmen meistens nicht mehr teil an „Flüchtlingsveranstaltungen“, die ihre Eltern und Großeltern häufig heute noch besuchen. Sie haben andere Interessen!

Viele ehemals Heimatlose haben sich inzwischen mit Flüchtlingen aus anderer Gegend oder mit Einheimischen vermischt. Das ist ja auch ganz natürlich, ist es eigentlich zu allen Zeiten gewesen! Vielfach hat sich eine „Blutauffrischung“ in so mancher Gegend Deutschlands geradezu als notwendig und ausgesprochen günstig erwiesen. Dadurch ist in neuer Umgebung vielfach wohl erst ein Menschenschlag entstanden, den Energie, Gesundheit und Schaffenskraft kennzeichnen.

Rachegedanken, Revanchegelüste sind den ehemals Heimatlosen fremd. Im Gegenteil: Eine vor Jahren unvorstellbare „Brückenfunktion“ haben sie heute übernommen. Von der jetzigen in die frühere Heimat. Von den Menschen und Institutionen hier zu den Menschen und Institutionen dort. Als Menschen der betreffenden Weltgegenden kennen sie die Mentalitäten und Bedürfnisse in ihrer Geburtsheimat doch am besten! So wissen sie genau, wo bei jedem Neubeginn der Schuh am stärksten drückt!


Nach der „Wende“ der politischen Verhältnisse in den heute meist zu ehemaligen „Ostblockstaaten“ gehörenden Herkunftsländern der Flüchtlinge haben viele, die Memelländer nach der Willkür der Sowjets erst sehr, sehr spät, ihre frühere Heimat besuchen und sie ihren Ehe- oder Lebenspartnern, ihren Kindern oder Enkeln zeigen können. Denen hat das den Deutschen bis dahin teils verschlossene Land gefallen. Wenn dort heute auch Menschen anderer Herkunft leben und dort gegenüber früher inzwischen eine ganz andere Welt entstanden ist, deren vorherigen Charakter sie selbst teilweise nie kennen gelernt hatten. Viele haben Freundschaften mit den Jetzigen geschlossen. Besuche hinüber und herüber sind keine Seltenheit mehr. Hilfe nach dort von vielen Seiten hier.


Dennoch ist schon heute der Tag absehbar, an dem nur noch wenige nach dem einstigen Memelland fragen werden. Noch weniger werden ihnen dann etwas über diesen einstmaligen Teil Ostpreußens und Deutschlands erzählen können. Dieser Landstrich dürfte dann nur noch Gegenstand eng begrenzter Literatur, möglicherweise nur über Litauen, sein. Eine mehr als berechtigte Sorge vieler Memelländer heute! Wie kann einer solchen Entwicklung noch lange Zeit Erfolg versprechend entgegengewirkt werden? Die „Alten“ müssen in ihren Organisationen die Wünsche und Interessen der „Jungen“ unbedingt ermitteln - ohne Vorbehalte. Aus den Erkenntnissen hieraus müssen sie Programme entwickeln, zu denen die Jungen JA sagen können. Für diesen „neuen Menschentyp“, für die Kinder und Enkel der Erlebnisgeneration, der Zeitzeugen, muss dann eine für die „Jungen“ einleuchtende Sprache gefunden werden. Die Nachgeborenen sehen verständlicherweise vieles gänzlich anders als die ursprünglichen Flüchtlinge. Jede Generation hat doch ihre eigenen Befindlichkeiten!

Die jungen Menschen erwarten und leisten sich gern so einiges in ihrem Urlaubsland, um es besser kennen zu lernen. Sie hassen besonders Bürokratie und Formularkram. Sie wollen mal in eine Disco gehen, Musik ihres Geschmacks hören oder nach deren Rhythmus tanzen können. Sie möchten vor Ort etwas sehen von Land und Leuten, etwas erleben. Sie wollen bequem an ihr Urlaubsgeld kommen können. Sie wollen segeln, schwimmen, sonnenbaden, Boot fahren, Bernstein sammeln, angeln usw. Sie wollen unbevormundet sein. Kurz - sie möchten mal so richtig Urlaub machen im Memelland, im Land ihrer Ahnen!

Bisher besteht bei vielen nachgeborenen Memelländern oft eine ausgesprochene Informationslücke. Unsere Eltern und Großeltern, aber auch wir, die damaligen Kinder, haben uns als Erlebnisgeneration nicht genügend Zeit genommen, ihnen noch viel mehr über unsere frühere Heimat zu erzählen. Wir glaubten seinerzeit, uns zuerst eine neue Zukunft aufbauen zu müssen und alles andere hintanstellen zu können. Oft waren die Fluchterlebnisse und der Schock darüber so schrecklich, dass wir mit den Nachgeborenen über „dieses Kapitel“ nicht reden wollten. Der Schmerz war einfach zu groß! So häufte sich mit der Zeit ein Defizit nach dem anderen zu einem großen Informationsdefizit bei den „Jungen“ an!

So manchen Memelländer erstaunt jetzt jedoch, dass vor allem viele der Enkelgeneration wieder nach der Herkunft ihrer Vorfahren fragen. Wem können diese mehr glauben und vertrauen als uns, ihren memelländischen Eltern und Großeltern? Jetzt nehmen wir uns oft die erforderliche Zeit, ihnen über unsere verlorene Heimat zu berichten. Vielfach bleibt es auch nicht dabei! Unsere Enkel reisen - oftmals in unserer Begleitung! - sogar in unsere jetzt zugängliche frühere Heimat, ins Memelland! Und sie sind meist angetan von dem, was sie dort sehen oder erleben. Oft schließen sie mit den Jetzigen Freundschaften und schreiben einander Briefe. Manche erlernen sogar die Muttersprache des anderen, um sich noch besser auszutauschen. Eine bewundernswerte Entwicklung!

Wichtig ist jetzt vor allem: Das Kulturgut unserer früheren Heimat darf nicht verloren gehen. Das muss vielmehr weiter gehegt und gepflegt werden! Viel ist doch schon verloren gegangen - viele meinen: zu viel! Wie sollen unsere Kinder die Probleme der Zukunft lösen, wenn sie nicht einmal ihre eigene Geschichte kennen? Aber bitte: Objektive Geschichte, keine Geschichtsklitterung!

Vieles ist schon auf diesem Gebiet getan und erreicht worden! Vieles bleibt aber noch zu tun! Die jungen Menschen wollen und brauchen etwas anderes als die „Alten“. Vor allem wollen sie frei selbst entscheiden, was sie wollen und was nicht! Das, was die Erlebnisgeneration - zu Recht - satzungsgemäß für sich festgeschrieben hat - insbesondere den Zweck und die Ziele ihrer Heimatorganisation -, kann für die „Jungen“ heute längst nicht mehr als „verpflichtend“ angesehen werden. Unsere memelländische Tradition kann ihnen - so bedauerlich, aber erklärlich das auch ist - nur noch nebenbei vermittelt werden. Anderes ist ihnen wichtiger!

Gerade hier sollte der immer noch vorhandene Pioniergeist der Memelländer tragfähige, solide, zukunftsgerichtete Brücken schlagen können! Ich bin sicher, die jungen Menschen werden sie vorbehaltslos und dankbar benutzen.