Erzählungen von Gerhard Krosien aus Schmelz (Kr.Memel)/Reise ohne Wiederkehr
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Der Abend war schön - wie fast alle Juliabende es am Kurischen Haff sind! Es war angenehm warm, die Sonne strahlte noch vorm Untergehen vom Himmel. Überall war Feierabend eingekehrt. Wir Kinder wurden - wie sonst auch – nach der Abendtoilette früh ins Bett gesteckt – meist früher als andere Kinder. Deren Gekreische konnte man noch vom Bett aus hören.
Und doch - am 30. Juli 1944 - schien einiges anders als sonst zu sein! Die Erwachsenen hatten in den letzten Tagen öfter zusammengestanden und mit den Händen gestikulierend geredet, ihre Gesichter hatten dabei einen ziemlich besorgten Ausdruck gehabt. Irgendetwas lag in der Luft! Das hatten auch wir Bowkes bemerkt.
Vom Bett aus war zu vernehmen, dass noch jemand ins Haus gekommen war. Vater konnte es nicht sein; der war ja an der Front in Russland. Kurze Zeit später hörten wir Mutter noch irgendwo in der Wohnung kramen. Das erschien uns schon komisch. Denn das war anders als sonst! Abends las sie meist in aller Ruhe ein Buch oder die Zeitung. Oder sie vertiefte sich in irgendeine Handarbeit. Dennoch entschlummerten wir Kinder nach durchtobtem Tag recht bald.
Am nächsten Morgen geschah etwas für uns ganz Ungewohntes: Obwohl Alltag, mussten wir Kinder unsere „guten Kleider“ anziehen, was wir eigentlich nur an Sonn- oder Feiertagen sowie bei festlichen Anlässen taten. Auch Mutter hatte sich festlich gekleidet. Die ganze Familie frühstückte gemeinsam am Küchentisch – keiner fehlte. Tante Elsa, Großvater und Großmutter fanden sich bald ein. Wir Kinder wurden an die Hand genommen. Mutter ergriff eine kleine Reisetasche, hängte sich den leinenen, sonst neben der Hauseingangstür hängenden Beutel um, in dem für den Fall eines Bombenalarms wichtige Dokumente zusammengetragen und verwahrt waren. Sie nahm die Jüngste von uns vier Kindern an die Hand. Dann trotteten wir alle in einen strahlenden Sommermorgen hinaus - zur Bushaltestelle an der Mühlenstraße, der Hauptstraße zwischen dem Vorort Schmelz und der Stadt Memel selbst.
Unterwegs trafen wir Nachbarsfamilien, Freunde, Bekannte. Alle wie wir sonn- oder feiertagsmäßig gekleidet, alle auf dem Weg zur Bushaltestelle. Im Bus selbst ebenfalls viele bekannte Fahrgäste, ob an der Haltestelle mit eingestiegen oder sonst wo zugestiegen. Alle festlich gekleidet, gewohnt ruhig, die Kinder in ausgelassener Stimmung.
Der Bus machte halt an der Dange vor der Anlegestelle, von wo aus ich schon so oft mit der Fähre nach Sandkrug zur Kurischen Nehrung hinübergefahren bin. Diesmal hieß es hier: Endstation, alles aussteigen! „Soll es heute womöglich in großer Gesellschaft auf die Nehrung gehen?“, fragten wir uns.
Doch nicht der altgewohnte Raddampfer liegt heute am Steg! Ein blendend weißes Fahrgastschiff, die „Liebe“, soll es diesmal offensichtlich sein. In aller Gemütsruhe strömen die Menschen auf das Schiff und verteilen sich über die verschiedenen Decks. Wir Kinder durchstöbern alle möglichen Ecken des Schiffs und sind immer wieder erfreut darüber, dass so viele Freunde von uns diese Reise mitmachen.
Eine Musikkapelle spielt auf dem Kai flotte Weisen, zuletzt „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus...“ Dann fallen die Leinen ins Wasser, das Schiff legt ab. Winken hinüber und herüber. Großvater bleibt zurück. Die Fahrt geht los. Stundenlang bei schönstem Sonnenschein durchs Kurische Haff mit der „Liebe“, so, wie ich sie vom Kahn aus schon öfters vorüberziehen gesehen habe.
Gegen Mittag ist die Dampferfahrt quer durchs Kurische Haff zu Ende. Labiau heißt unsere Station. Alle Mitgereisten verlassen das Schiff und lagern sich auf einer großen, grünen Wiese im Schatten hoher Bäume. Mutter holt ein ansehnliches Proviantpaket aus der Reisetasche, Tante Ella mit ihren vier Kindern hat ein großes Weckglas mit gebratenen Aalstücken mitgebracht. Das gibt ein herrliches Picknick! So, wie sonst bei Ausflügen zum Ostseestrand oder in die heimatliche Umgebung. Wir Kinder tollen überall umher. Alles hat den Anschein eines großen Familienausflugs.
Am Spätnachmittag geht der „Ausflug“ weiter: diesmal per Bummelzug. Endstation ist Osterode in Ostpreußen. „Hier soll wohl übernachtet werden“, spekulieren wir Kinder. Die einzelnen Familien bekommen von irgendwelchen dienstbaren Geistern in Uniform Adressen auf Zetteln und ziehen darauf in unterschiedliche Richtungen der Stadt davon. Ihnen wird gesagt, der Aufenthalt hier sei „nur vorübergehend“.
Großmutter und Tante Elsa erhalten in einer vornehmen Villa ein großes, helles Zimmer zum Garten hinaus. Die Adresse auf dem Zettel für unsere Familie lautet : „Stadtbaumeister ... in der ...straße Nr...“. Dorthin gehen wir und stehen schließlich vor einem zweistöckigen, neuen, roten Backsteinhaus. Wir treten in den Hauseingang und drücken an der einzigen Klingel - bei ...
Lange rührt sich nichts. Nach erneutem Klingeln tut sich etwas hinter der Tür. Sie wird halb geöffnet, und eine etwas verlebt und übermüdet wirkende Frau von etwa 60 Jahren schiebt sich langsam in die Öffnung.
Wir grüßen höflich, Mutter nennt unseren Familiennamen. Die Frau mustert uns alle der Reihe nach von oben bis unten - ganz Abwehr!
„Ach ja, sie sind die von der Partei angekündigten Flüchtlinge aus dem Memelland“, sagt sie dann mit gleichgültigem Gesichtsausdruck, macht die Tür ganz auf und schlurft voran in ihr Haus. „Hier links, das ist Ihre Wohnung“, sagt sie und führt uns in ein kleines Zimmer mit separatem Eingang zum Flur. „Das ist sonst die Wohnung des Dienstmädchens. Kochen und Baden verboten! Und absolute Ruhe, wenn ich bitten darf! Meine Nerven!“ Und fort ist sie, in einer der anderen Türen des Hauses verschwunden.
Wie betäubt lassen wir uns auf das einzige Bett und auf die Liege im Zimmer sinken. Mutter weint. „Flüchtlinge“ hat die Frau gesagt! Was ist das? Wir verstehen das alles noch gar nicht! Heute wissen wir`s: Wir Memelländer waren ja auch die ersten Deutschen, die ihre Heimat fluchtartig vor der Roten Armee verlassen mussten!
In den nächsten Monaten und Jahren lernen wir den Sinn dieses schrecklichen Begriffs „Flüchtlinge“ mehr als einmal kennen! Denn Osterode in Ostpreußen war ja nur die erste Etappe eines noch weiten, gefahrvollen Weges. Er führte – gerade für uns Kinder - unter manch grausamer Erfahrung über Pommern, die zweite Etappe, in eine Kleinstadt am Rand des niedersächsischen Teufelsmoors – zur vorläufigen Endstation, die für uns nun schon über 60 Jahre Bestand hat. Hier musste nun in völlig fremder, zunächst recht abweisender Umgebung die Grundlage für eine neue Heimat gelegt werden. Wer von uns ahnte damals, dass für viele die letzte Etappe auch die endgültige werden sollte und die frühere Heimat nur noch im Herzen bewahrt werden musste? Wer ahnte aber auch, dass die Flüchtlinge von einst nach Veränderung der politischen Verhältnisse hinter dem „Eisernen Vorhang“ jemals eine wichtige Brückenfunktion zwischen alter und neuer Heimat übernehmen würden? Aber so ist das Leben halt! (Nach dem Buch „Merkwürdiges im heutigen Gestern – Kurzgeschichten aus dem Memelland Titel 'Es begann wie ein fröhlicher Ausflug' “).