Familien-Krankenstation
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Familien-Krankenstation
Von Gerhard Krosien
Es war überhaupt nicht verwunderlich. Bei vier Geschwistern war das gemeinsame Kinderzimmer oft auch das gemeinsame Krankenzimmer. Jeder steckte den anderen irgendwann mal an. Also belegte man auch gemeinsam die „Krankenstation“! Das war bei fast allen Kinderkrankheiten so. Und wenn die Krankheiten keine „Eigengewächse“ waren, brachte sie einer bestimmt aus dem Kindergarten mit heim. Denn auch die Kinder dort bekamen ihre Kinderkrankheiten. Und ehe man sich's versah, waren andere Kinder - auch wir - schon angesteckt.
In der Krankenstube war es - so erinnere ich mich noch gut - immer ziemlich lustig. Oma erzählte uns „Bettlägerichen“ spannende Geschichten, und Mutter las uns Märchen vor, wozu sie sonst nicht allzu oft die nötige Zeit hatte. Desöfteren beschrieb einer dem anderen aus seinem Bett heraus, wie sonderbar er gegenwärtig aussah. Auch durften wir uns dann jedes Mal unsere Lieblingsspeisen wünschen. Die gab es dann auch! Das Problem war aber, dass mindestens eines der Geschwister die gewünschte Lieblingsspeise eines anderen nicht mochte. Aber da war jeder mal dran und musste zurückstecken. Mein Lieblingsgericht war stets „sanfte Liebe“. Das war eine recht süße Klunkermus-Milchsuppe, in die noch ein Päckchen Erdbeer-Puddingpulver-Ersatz eingerührt wurde. Sie sah wunderbar hellrosa aus, und wir alle aßen sie gern.
Der Gipfel unserer Glückseligkeit wurde aber immer am Ende des gemeinsamen Krankenlagers erreicht. Nachdem das Zimmer ordentlich desinfiziert worden war, gab es für die Genesenen „zur Stärkung“ - wie es hieß - Malzbier mit untergerührtem süßen Eierschaum und außerdem heiße Bockwürstchen. Welche Mengen Würstchen dann in unsere kleinen Mägen hineinpassten, war schon erstaunlich. Wir wollten doch möglichst rasch wieder „stark“ sein, damit wir mit den anderen Kindern draußen herumtollen konnten! Das Ergebnis solcher Völlerei: Für Monate konnten wir Würstchen nicht mehr ausstehen, ja, nicht einmal das Wort Würstchen hören. Glatt überfressen hatten wir uns damit. Aber geholfen hat es immer! Schon bald vernahm man unser Gebrüll wieder draußen auf der Straße.