Frieden der Generationen
Frieden der Generationen
Von Gerhard Krosien
„Tante Dora fährt im Hühnerstall Motorrad, Motorrad, Motorrad, ohne Bremse, ohne Licht fährt sie nicht.“ So tönt es von der Hofseite her durch den das Haus teilenden Flur. Drei Jungen im Alter von damals acht und neun Jahren, mein Vetter, mein Bruder und ich, brüllen dieses Lied durch den Raum. Das ist nicht das erste Mal, dass wir das tun ! Wir wissen, die unverheiratete Tante, die auch Verwalterin des Hauses für ihre zur See fahrenden Brüder und die im ganzen Ortsteil wegen ihrer Schrulligkeit verrufen ist, ärgert sich furchtbar darüber.
Schon geht die Tür vorne rechts im Haus auf - und Tante Dora kommt - wie erwartet - in den Flur gestürmt. In der rechten Hand hält sie einen roten Gummiknüppel, dessen Halteschnur um ihr Handgelenk geschlungen ist. „Wartet, ihr Bengels, ich werde euch helfen, friedliche Menschen zu ärgern!“, schreit sie im Laufen drohend uns, die wir durch die Hintertür rasch in den Hof türmen, nach. Schon sind wir zwischen den Schuppen und Ställen hindurch aufs angrenzende Feld entwichen, haben bei unserem Rückzug aber noch schnell zwei Ziegelsteine auf die dort vorhandene Schwingtür gelegt.
Unter dichtem Kartoffelkraut versteckt beobachten wir nun, wie Tante Dora die Schwingtür aufstößt, wie die Ziegelsteine nach unten sausen, wie die Tante aufheult und unvermittelt kehrt macht. Das hat gesessen! Mitten auf die Nase sind ihr die Steine gefallen. Die böse Tante hat das verdient! Kinder können böse denken.
Tante Dora musste den Arzt aufsuchen. Sie lief die nächste Zeit mit einem dicken, weißen Kopfverband herum. Alle gönnten „dem Weib“ das ihm offensichtlich zugestoßene Mißgeschick.
Eines Tages - wir drei Buben hatten uns zu einem erneuten verbalen Anschlag, diesmal auf der Straße vor dem Gartenzaun, aufgebaut - ging plötzlich Tante Doras Stubenfenster auf. Sie schaute - ohne Kopfverband inzwischen - freundlich zu uns heraus. „Laßt uns Frieden schließen, ein für allemal. So, wie es bis jetzt ist, bringt das doch nichts. Ich habe für euch auch Buttermilchkartoffeln gemacht, zu denen es ein paar Dillgurken gibt“, ließ sie uns wissen. Wir verstanden erst nicht, wie uns geschieht. So recht trauten wir diesem Friedensangebot nicht. Welche Veränderung der Lage! Aber schließlich wagten wir uns doch ins Haus.
Es war genau so, wie die Tante es gesagt hatte. Auf dem Tisch standen eine große Schüssel duftender Buttermilchkartoffeln, ein Teller mit Dillgurken, vier leere Teller, daneben lagen Gabeln. Alle setzten wir uns an den Tisch und aßen in aller Ruhe von dem Friedensmahl.
Ab diesem Tag war Ruhe. So garstig war die Tante Dora nun auch wieder nicht. Und die Menschen des Ortes fanden auch, Tante Dora habe sich seit ihrem Kopfverband zu ihrem Vorteil verändert.