Handbuch der praktischen Genealogie/259

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Handbuch der praktischen Genealogie
Inhalt
Band 2
Tafel: I • II • III • IV • V • VI • VII • VIII • IX • X • XI
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ein Bedürfnis; es ist nicht geschaffen, in dieser der menschlichen Eitelkeit zu fronen, sowenig wie im öffentlichen Leben der Wohldienerei. In der Familie hat das Porträt neben seinem absoluten Kunstwerte noch eine besondere edlere Mission zu erfüllen. Es hält die Pietät in der Familie und die fortlaufende Erinnerung an die Familie aufrecht. Der bürgerlichen und der adligen Familie, den Hohen wie den Niedrigen müssen diese Erinnerungen heilig sein. Die alten deutschen und holländischen Bilder z. B., die wir kennen, mit den Zügen voll Treue, voll Ehrbarkeit und Kraft, zeigen uns deutlich, daß in den vergangenen Jahrhunderten diese moralischen Mächte in der Gesellschaft lebendig gewesen sind, und wir sehen, daß diese guten Eigenschaften des Lebens auf die Kunst, auf die Künstler förderlich eingewirkt haben und daß diese Bilder in erster Linie nicht der bloßen Eitelkeit, der müßigen Schaulust der Salons gedient haben.

Anfänge bildnisartiger Schöpfungen in der deutschen Malerei.

Die Anfänge bildnisartiger Schöpfungen auf dem Gebiete der deutschen Malerei sind in den Handschriften zu finden. Bereits die ältesten der uns bekannten Buchillustrationen enthalten figürliche Darstellungen. Anfangs in roher und kindlicher Auffassung, später in seltsamen Verschnörkelungen, sind sie nichts anderes als ein häufig wiederkehrendes, ein ornamentales Schema, das Symbol einer menschlichen Gestalt, und selbst da, wo in den besseren Arbeiten aus charakteristischen Attributen oder einem beigeschriebenen Namen ersichtlich ist, daß mit diesem Symbol eine ganz bestimmte Persönlichkeit gemeint ist (Dedikationsbild, Autoren- und Schreiberporträt), kann von einem menschlich-individuellen Zug noch nicht gesprochen werden. So hat sich, um nur eines der zahlreichen Beispiele aus früherer Zeit zu nennen, in einer Handschrift des 8. Jahrhunderts (St. Gallen, Stiftsbibl. Handschrift 736) der Schreiber derselben, Wandelgarius, abkonterfeit, aber die Linien, die seine Physiognomie bezeichnen sollen, unterscheiden sich schlechterdings nicht von denen der anderen Köpfe dieser Handschrift.[1]

Noch in die Lebenszeit Karls des Großen fallen die ersten schüchternen Versuche, der Realität der Physiognomie ein wenig nahe zu kommen, so z. B. in den kleinen Porträtköpfen der Alcuinbibel in Bamberg, und augenfälliger wird der Fortschritt in den Bildnissen der leges barbarorum, die in prächtig ausgestatteten Handschriften die kurz nach dem Tode des Kaisers gesammelten, im karolingischen Reiche geltenden Volksrechte enthalten. In dem ihnen beigegebenen Bilderschmuck sind die einzelnen Gesetzgeber in großen Vollbildern dargestellt, unter ihnen auch Karl der Große. In den ältesten dieser Handschriften, in der 820 bis 832 in einer Schreibstube zu Fulda angefertigten Sammlung, stimmt das Bildnis des Kaisers mit der ausführlichen Personalbeschreibung Einhards überein: ein runder dicker Kopf, glattes Kinn und Schnurrbart, auffällige Merkmale, die in noch schärferer Ausprägung die berühmte Reiterstatuette im Museum Carnavalet zu Paris zeigt.


  1. Vgl. D. Studie u. d. deutsche Porträt von Karl Lamprecht im 3. Jahrg. des Museums, S. 21, wo dieses Beispiel durch Abbildungen erläutert wird.