Horstenau/Geschichten
Traute Steidl, geb. Lengtat, erzählt von den Jahren 1945 bis 1948:
Verlorener Himmel über Horstenau – meine Erinnerungen
Meine ersten 8 Jahre erlebte ich, wie viele Kinder in dieser Zeit, arbeitsam inmitten des Ortes in Horstenau und besuchte die Schule in unserer Nähe. Leider verstarb meine Mutter nach 12-jährigem Leiden, und mein Vater musste trotz schwerer Verwundung und der familiären Situation weiter bei der fahrenden Infanterie dienen.
Am Abend des 19. Januar 1945 begann unsere Flucht. Auf unserem Wagen saßen meine 89-jährige Oma, die Schwester meines Vaters, meine Schwester Annemarie und ich. Da wir nur ein Pferd besaßen, gab uns der Großvater mütterlicherseits noch ein Pferd. Die Stute war hoch tragend. Unseren Wagen lenkte „Opa“ Adler, ein Nachbar. Seinen Wagen fuhr der Fremdarbeiter Theodor, der mit unserer Fremdarbeiterin Nina befreundet war. Beide waren Polen. Die Fahrt ging in Richtung Oberförsterei, da die Chaussee für das Militär frei gehalten werden musste, denn im 12 km entfernten Aulenbach war bereits die Rote Armee. Wir hörten das Heulen der Geschütze und sahen hellen Feuerschein. Bereits an der Kreuzung Höhe Oberförsterei wurde unser Gefährt infolge der Hektik und Dunkelheit angefahren. Das führte zum Bruch der Deichsel. Wir schlugen uns provisorisch bis Wirbeln durch und erhielten eine neue Deichsel. Unsere Oma war seit dem Aufsteigen auf den Wagen nicht mehr bei Bewusstsein. Die Fahrt ging durch Militär, Schnee und Kälte nur langsam voran. In Taplacken kam es dann zur Notfohlung. Mit der Stute war eine Weiterfahrt nicht möglich, aber es gab bereits herrenlose Pferde. Kamen wir abends irgendwo an, hatten wir kaum eine Chance, eine Unterkunft zu erhalten. Schon allein Oma vom Wagen zu heben, war sehr beschwerlich. Wenn es hilfsbereite Menschen gab, erhielten wir im Pferde- oder Kuhstall eine Unterkunft.
Eines Tages erzählte eine fremde Flüchtlingsfrau meiner Tante, sie hätte auf einem vorbeifahrenden Militärtransport ihren Mann gesehen. Drei Tage durfte er uns auf dem Treck begleiten.
Ein paar Tage später, es war in der Nähe von Preußisch Eylau, kam eine Militärkolonne. Wir mussten – wie fast immer – in den Chausseegraben ausweichen, um dem Militär Vorfahrt zu gewähren. Vier, fünf Wagen aus Horstenau standen noch beisammen, da kam vom letzten Wagen jemand gelaufen und rief: “Der Lengtat kommt vorbei!“ Es war wirklich unser Vater! Es ist mir bis heute nicht klar, warum mein Vater, besonders auch nach seiner Verwundung 1943, mit einer pflegebedürftigen, teilweise bettlägerigen Ehefrau, einer hoch betagten Mutter, zwei kleinen Kindern und einem Bauernhof beim Militär bleiben musste. Vater fuhr allein einen Pferdewagen und so konnte er uns nur zuwinken. Das war auch das letzte Mal, dass wir unseren Vater sahen; er ist nicht wieder gekommen…
Weiter ging der Treck in Richtung Heiligenbeil in der Nähe zum Frischen Haff. Wir wurden auf einen großen Platz eingewiesen und trafen dort den Ehemann der jüngsten Schwester von Tante Martha; er war noch zum Volkssturm eingezogen worden. Angehörige der Feldgendarmerie („Kettenhunde“ genannt) überwachten dort die Anweisung, überflüssiges Gepäck vom Wagen abzuwerfen, um weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Anschließend fuhren wir auf dem zugefrorenen Frischen Haff in Richtung Pillau. In Pillau wurde, wie so oft, im Freien gekocht. Dabei ging das Gerücht um, dass Alte, Frauen und Kinder auch mit dem Schiff gen Westen fahren könnten. Da unsere Oma kaum transportfähig war und „Oma“ und „Opa“ Adler die Wagen mit den Pferden nicht aufgeben wollten, schließlich wollten sie ja bald wieder nach Hause, fuhren wir mit unseren Gespannen weiter.
Unser gutes Pferd Moritz war schon sehr müde, schwach und alt und trotzdem bewahrte es uns vor dem Ertrinken. Auf dem Haff erlebten wir immer wieder angreifende Tiefflieger und Bombenabwürfe. Da wir auch nachts fahren mussten, ging immer eine Person vor dem Gespann, um das Eis zu kontrollieren. Dabei geriet Moritz auf ein gesunkenes Gespann, warf sich seitlich auf das Eis und bewahrte uns vor dem Sinken. Schweren Herzens mussten wir ihn zurücklassen, es gab viele herrenlose Pferde und Moritz war auch am Ende seiner Kraft. Ich habe noch viel um meinen Moritz geweint, aber der Überlebenskampf war übermächtig. Auf einem Ort der Nehrung gewährte uns eine mildtätige Frau Unterkunft und bot meiner Tante Milch an. Ich habe so gern in Horstenau Milch getrunken. „Traute, heute habe ich Milch bekommen“, klang für mich wie eine Freudennachricht. Doch beim Trinken spürte ich einen fremden Geschmack. Es war Ziegenmilch; ich habe sie trotzdem getrunken.
Unterwegs habe ich viele Tote gesehen, erfroren auf dem Wagen oder durch Beschuss getötet. Eindringlich erinnere ich mich an das Bild als die Feldgendarmerie einen Fahnenflüchtigen gefasst hatte. Er musste auf eine große Pappe schreiben: „Ich war zu feige, fürs Vaterland zu kämpfen.“ Dann wurde er erschossen. Andere wurden als Abschreckung aufgehängt, es waren keine Einzelfälle!
Die Fahrt ging weiter, und die Eisschmelze begann. Es bildeten sich bereits Wasserschichten. Als wir endlich vom Eis durften, war das Eis schon recht brüchig. Der erste Ort, den wir nach Verlassen des Haffs erreichten, war Stutthof. Während an anderen Orten die Mitmenschen sehr gleichgültig waren, halfen uns hier sofort Leute, um Oma vom Wagen zu tragen. Bei einbrechender Dunkelheit durfte niemand mehr auf den Fahrzeugen sein, und das wurde streng kontrolliert. (Bei einem späteren Urlaub in Polen in den 80-iger Jahren erfuhren wir erst von dem damaligen Konzentrationslager in dieser Gegend).
Nun mussten wir auf vom Militär und Flüchtlingen verstopften Straßen weiter fahren, und immer wieder beschossen uns Tiefflieger. In Dirschau sind wir über die Weichsel gefahren. Die Weichselbrücke war noch nicht gesprengt, wir hatten Glück. Dann waren wir, wie es damals hieß, im polnischen Korridor in der Nähe der Bahnstrecke Neustadt/Lauenburg in dem Ort Kamenz. Hier war die Fahrt mit dem Pferdewagen zu Ende; es muss so Ende Februar gewesen sein.
Wir wurden bei einer polnischen Frau mit vielen Kindern in einem einfachen Haus, das wir zu Hause Insthaus nannten, untergebracht. Für Oma gab es noch ein Bett, während wir alle auf dem Fußboden schliefen.
Am 12. März 1945 waren dann die Russen da!
Der erste Tag war noch ganz friedlich. Wir und auch Oma wurden nicht belästigt. Am Abend war das Zimmer voller Russen, und wir schliefen alle dicht gedrängt auf dem Fußboden. In der Nacht vom 12. zum 13. März 1945 verstarb dann unsere Oma. Es war für sie und auch für uns eine große Erleichterung. Sie schlief recht friedlich ein. Nur ein Russe hat das noch bemerkt, aber auch er hat sich ruhig verhalten. Am 13. März haben wir in Großposchol so gut es eben ging unsere Oma in der noch gefrorenen Erde beigesetzt. Sie war in ihrem Mantel und Bettlaken eingehüllt. Wir waren erleichtert, sie beigesetzt zu haben, denn ich hatte viele Verstorbene unbestattet in
Chausseegräben gesehen.
Am Abend begannen die Russen, mit viel Wodka ihren Sieg zu feiern, und auch Opa Adler musste mittrinken. Die Russen sagten etwas, und er musste immer „Da, Da“ - „Ja“ sagen, dann sollte er hinaus gehen und erschossen werden. Da Oma Adler ihn fest umarmte, sollten wir nun alle vor die Tür und erschossen werden. Dank der Trunkenheit der Russen konnten wir aber entkommen und versteckten uns im Hühnerstall. Am Morgen des 14. März verriet uns die polnische Inhaberin, dass die Russen noch ihren Rausch ausschliefen, und wir fliehen sollten. Wir nahmen ein paar Sachen und gingen los - wohin wusste keiner. Zunächst gingen wir durch den Ort und dann in den Wald. Dort verbrachten wir drei Tage. Endlich war der Schnee geschmolzen. Doch wir hatten fürchterlichen Durst und wollten weiter. Als wir später aus dem Wald traten, sahen wir in der Ferne ein größeres Grundstück. Das Anwesen war eine Wassermühle. Es lag an der Bahnstrecke nach Lauenburg etwa noch 12 km entfernt, und wir trafen viele weitere Flüchtlinge an, sicherlich weil es außerhalb des polnischen Korridors lag. Auch hier hatten bereits Russen den Altbesitzer und einen weiteren Mann erschossen.
Es muss so Mitte April gewesen sein, da kamen Polen und forderten uns zum Verlassen auf. Nur die Besitzerin, ihr Sohn und die Schwiegertochter durften bleiben. Auf der anderen Seite der Bahnstrecke stand ein leeres Bahnwärterhaus, dort zogen wir mit den verbliebenen Flüchtlingen ein.
Opa Adler wurde unruhig und meinte: „Wenn die Polen hier schon einziehen, dann wird der polnische Korridor wieder abgeriegelt. Wir müssen deshalb schnell nach Hause.“
Es war der 8. oder 9. Mai, als wir den Heimweg antraten. Keiner ahnte etwas von dem weiteren Schicksal unserer Heimat. Opa Adler hatte aus Resten einen Handwagen gebastelt, auf den wurden die verbliebenen Habseligkeiten aufgeladen, und los ging es. Eine Karte gab es nicht, aber Opa Adler hatte von seiner früheren Wanderschaft einen ausgeprägten Orientierungssinn. Er vermied größere Städte, und die Russen haben uns verhältnismäßig wenig belästigt. Ihr Trachten galt „Uhri, Uhri“ und Schmuck. Von der Halbinsel Hela kamen deutsche Kriegsgefangene unter Bewachung. Mit ihnen sind wir zwei Tage mit gelaufen und staubten etwas Verpflegung ab.
Adlers hörten von Kriegsgefangenen, dass auch ein Sohn von ihnen in der Kolonne ist, gesehen haben wir ihn allerdings nicht. Die Soldaten mussten schneller laufen, aber ich mit meinen 9 Jahren konnte nicht mehr, und wir ließen die Kolonne ziehen. Auch Opa Adler trieb uns immer wieder zum schnellen Tempo an, denn er wollte zu Hause endlich die Kartoffeln pflanzen. Das werde ich nie, nie vergessen.
Nun war in Dirschau die Brücke über die Weichsel zerstört. Uns gelang eine Überfahrt mit einem provisorischen Floß. Es gab viele weitere heikle Situationen auf dem Heimweg und bei den „Durchsuchungen“ wurde unser Handwagen immer leichter. Abends schliefen wir meist in Scheunen oder leeren Ställen, Häuser wurden immer wieder von Russen aufgesucht.
Die letzte Nacht haben wir in Norkitten geschlafen. Den nächsten Tag sind wir dann bis Horstenau gelaufen. Opa Adler sagte, er wolle nicht von Pagelienen an der Gärtnerei und bei Schulz vorbei, sondern lief noch den Bogen bis zum Kiesweg. Von der Chaussee konnte man sehen, welche Häuser noch standen. Adlers leider nicht, aber unser Haus. Wir waren in einem anderen Horstenau angekommen. Wir zählten zu den Letzten, die wieder in Horstenau eintrafen. Für das Pflanzen der Kartoffeln war es zu spät. Es war Mitte Juni. Nun empfanden wir erst richtig Hunger und Angst, obwohl wir „daheim“ waren. An alle Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber einige sind mir im Gedächtnis geblieben. Frau Burbat mit 5 Kindern, Frau Korinth mit drei Kindern, Frau Szagun mit Vater und Tochter, das Ehepaar Nolde mit Sohn Fritzche, Ehepaar Lemke, Frau und Herr Hecht. Frau Gibson hatte auf der Flucht ihre Kinder verloren, Frau Eckert, Lotte Schankat, das Ehepaar Lubinski mit Tochter Frieda, deren Sohn auf dem Pferdewagen erfror. Ich glaube auch Ehepaar Schakneis und Ehepaar Berg waren noch da. Unser Leben war von Überfällen der Russen und Nahrungsbeschaffung geprägt. Wir waren in Horstenau vogelfrei, denn es hat sich niemand um uns gekümmert. Wir wurden auch nicht namentlich erfasst. Da im Herbst 1944 noch das Wintergetreide ausgebracht wurde, konnten wir nun etwas ernten. Mit Karren und Handwagen haben wir das Getreide in Scheunen gebracht und mit Dreschflegeln Korn gewonnen. Da die Russen aber zu häufigen „Besuchen“ erschienen, galt bei ihnen „Zapzarap“, das heißt stehlen. Auch die Mäuse und Ratten hatten Hunger, der Rest war für uns.
Dann kam eine Russeneinheit. Sie zogen in unser Haus. Wir hatten ein Tomatenfeld anzulegen. Die Arbeit und das Bewachen wurden von
unseren Leuten verrichtet. Sie hatten auch darüber zu wachen, dass andere Russen nicht klauen. Die Bezahlung war gleich Null. Viele von
uns gingen in den Wald, um Maiglöckchen, Beeren und Pilze zu sammeln. Nach dem Fußmarsch bis Insterburg tauschten wir unsere Produkte gegen lebensnotwendige Sachen, doch oft mussten wir auch Raub hinnehmen. Alle Heimgekehrten suchten in den leer stehenden Häusern nach Verwertbarem und boten auch diese Sachen auf dem Basar auf dem freien Platz in der Hindenburgstraße und dann später auf dem Neuen Markt an.
Die Russeneinheit blieb etwa ein Viertel Jahr. Die neue Einheit richtete in Herings Haus eine Wäscherei und Sauna ein. Das restliche Dorf verfiel zunehmend im Kern und Außenbereich. Nur die Häuser entlang der Chaussee wurden verschont.
In Georgenburg wurde ein Kriegsgefangenen-Lager im ehemaligen Gestüt als Durchgangsstation für den Transport der Gefangenen nach Russland unterhalten und in der Burg war eine Krankenstation. Bis zu Dreißigtausend Kriegsgefangene lebten auf engstem Raum. Dann wurde angeordnet, dass ein Sommerlager wegen der Überfüllung der Burg zu errichten ist. Im Wald Forst Neuteich wurde aus dem Holz leerstehender Gebäude im Umfeld ein Barackenlager errichtet. Aus den verbliebenen Grundmauern der Gebäude sah ich vor der Abreise 1948 bereits Birken und Pappeln sprießen. Eine Russeneinheit hatte in Georgenburg eine Sowchose eingerichtet. Dort arbeiteten vor allem Kriegsgefangene in der Feldarbeit und der Viehzucht. Die Gefangenen hatten Mitleid mit uns und unterstützten uns. Wir mussten erleben, wie Tausende von ihnen verstarben und in Panzergräben mit Branntkalk bedeckt wurden.
In Horstenau verstarben das Ehepaar Nolde und Frau Gibson. Die Russen erschossen die Eltern von Frieda Stiemer. Sohn Heinz Nolde war etwa acht oder neun Jahre und sollte mit Oma Adler nach Insterburg mitgehen. Sie waren erst eine kurze Strecke gelaufen, da weinte der Junge bitterlich vor Hunger. Oma Adler schickte ihn zurück, doch er ist nicht wieder in Horstenau angekommen. Vermutlich wurde er ein „Russenkind“.
In Horstenau blieben wir vernachlässigt, deshalb zogen Adlers, meine Tante und meine Schwester mit mir ohne Erlaubnis nach Insterburg.
In der Dobeneck Gasse, im letzten Haus am Schützenpark, sind wir untergekommen. Auch in Insterburg gab es keine Verpflegung und der Hunger war allgegenwärtig. Deshalb liefen wir wieder nach Georgenburg, um auf den abgeernteten Kohlfeldern noch Reste von gefrorenem Kohl zu finden (1946/47). Früh, mittags und abends gab es Kohlsuppe, mal mit einer geriebenen Kartoffel, mal mit etwas Brot, mal ohne alles.
Meine Tante schickte mich dann zur Schule, damit wir zu Lebensmittelkarten kamen. Sie arbeitete mit meiner Schwester in einem Keller am Pregeltor. Sie sortierten Kartoffeln und wagten immer wieder eine kleine Mitnahme. In der Schule wurde die deutsche Sprache ignoriert. Der Unterricht erfolgte nur in Russisch.
Im Sommer 1948 wurden wir in der Nacht von Russen geweckt, die unsere Personalien aufnahmen. Wir wussten nicht warum und wozu. Dann mussten wir zum Krankenhaus am Wasserturm, wurden etwas untersucht und bekamen eine Spritze in den Rücken.
Es verging eine gewisse Zeit, und wir bekamen russische Papiere. Am 1. September 1948 sollten wir uns am Bahnhof in Insterburg einfinden. Am Bahnhof waren viele Deutsche aus umliegenden Orten versammelt. Auf Viehwagen fuhren wir bis Königsberg. Vor dem Umsteigen in einen Personenzug wurden wir nochmals nach Wertsachen kontrolliert, und es begann die Fahrt gen Westen. Nach der Ankunft in Pasewalk kamen wir in die Quarantänestation Küchensee/Storkow.
Das Ehepaar Adler wurde von seiner Tochter nach Berlin geholt. In Egsdorf bei Teupitz erhielten wir Drei einen Raum mit zwei Betten, drei Stühlen, einem Tisch und einer kleinen Kommode. Die Glühbirne an der Decke fehlte. Das Zimmer, die Verhältnisse und der Himmel waren dunkel über uns...
Traute
Dr. Dieter Kuprat erzählt:
Nach 60 Jahren wieder in Horstenau
Als unsere Mutter im Herbst 1944 mit uns 5 Kindern Horstenau verließ, war ich gerade drei Jahre alt. Leider verstarb unsere Mutter 1945, und wir Kinder wuchsen getrennt auf. Der Aufenthalt unseres Vaters als Soldat war damals unbekannt. Ich wurde durch Pflegeeltern in Sachsen liebevoll erzogen, doch sie konnten mir über meine Vergangenheit nichts berichten.
Nach dem Ende der DDR knüpfte ich Kontakte und bezog Literatur über Ostpreußen Als besonders lebendig erwies sich die Heimatgruppe „Horstenau“, die Traute Steidl einmal im Jahr seit 1992 organisierte, und intensive Briefkontakte.
2005 lud Traute uns zu einer Fahrt nach Litauen und Ostpreußen ein, um uns „junge“ Leute durch unseren Ort zu führen. Wir waren in zurück liegenden Jahren bereits allein auf Suche, doch fehlte uns die Einordnung der wüsten Flächen.
Mit einem Kleinbus fahren wir von Litauen über Tilsit, Breitenstein in Richtung Georgenburg. Bei der Fahrt im Instertal schult Traute unseren Blick für erhöhte Busch- und Baumgruppen als untrügliches Zeugnis für ehemalige Höfe und Ansiedlungen. Wir kommen an der Vorderfront der Georgenburg vorbei und sehen, dass erfreulicherweise eine Dachsanierung am ehemaligen samländischen Bischofssitz von 1350 und späterem Zentrum der Pferdezucht beginnt. In Georgenburg wurde ich am 12. 10. 1941 von Pfarrer Drews getauft, doch auch die Taufkirche wurde im Mai 1945 bewusst zerstört. Der nördliche Teil der Georgenburg ist ja bereits völlig neu als Pferdezucht und Reiterausbildung gestaltet – einschließlich eines Hotelkomplexes Georgenburg in kyrillischer Schrift.
Doch wir fahren an der Kreuzung nach rechts Richtung Kreuzingen, durchfahren Pagelienen (Perelesno) und nach den Häusern an der rechten Straßenseite, z.B. Lemke, kommen wir an einen Abzweig, der links nach ehemals Blüchersdorf führt.Wir haben das eigentliche Ausgangsziel der Reise erreicht und dokumentieren diese Stelle mit vielen Fotos aller Teilnehmer.
Egon erklärt uns, dass wir uns neben dem ehemaligen Haltepunkt der Kleinbahn befinden. Der Haltepunkt war damals ein Blechcontainer, aber in unmittelbarer Nähe war die Post von Blüchersdorf, der Heimat von Egon bis zu seiner Einberufung. Von der Post konnte er in Richtung Horstenau sehen. In erster Nachbarschaft war die Mühle und das Sägewerk von Horstenau.
Hier trennten wir uns. Wir verblieben 7 echte und eingeheiratete Horstenauer. Traute führte uns einen leichten Feldweg, von dem nach rechts gleichfalls ein Streifen mit Buschwerk verlief, den sie als alte Trassenführung der ehemaligen Kleinbahn erklärte. Nun galt es, in dem freien, großen Gelände eine Einordnung und Positionsbestimmung in der Karte zu finden, denn Bärbel und Lothar interessierten sich als erste für die Lage und Reste ihres Grundstückes.
Horst nahm etwas die Anspannung heraus, indem er uns für die blühenden und duftenden Wildkräuter sensibilisierte. Er brachte uns die blau blühende Gemeine Wegwarte wieder nahe und belehrte uns, dass die Wurzeln in schlechten Zeiten als Kaffeeersatz gebrüht wurden. Wegen ihrer Nutzung als „Zichorienwurzel“ wurde die
Pflanze im 19. Jahrhundert, ähnlich wie auch die Kornblume, kultiviert und auch in der Naturheilkunde verwandt.
Der Himmel wölbte sich mit plastisch geformten Wolken über uns („In Horstenau ist der Himmel blau“). Da es am Vortag in Horstenau geregnet hatte, entfalteten die Wildkräuter ihre ätherischen Gerüche und verstärkten unser euphorisches Empfinden.
Lothars Eltern hatten das Haus erst 1938 neu gebaut. Er erinnerte sich an zwei Fichten als eine Begrenzung. Was machen Fichten im Verlauf von 70 Jahren? Nach ersten Vermutungen an vorgelagerten Stellen kam Lothar kurz vor einem verlandeten Graben, der früher Horstenau zur Entwässerung komplett umschloss, zweifelsfrei an sein Grundstück und fand einige Ziegelreste. Wir freuten uns alle mit ihm.
Nur Traute war nicht glücklich. Sie suchte die Umgebung nach der großen Eiche ab, die markant auf dem höchsten Hügel von Horstenau stand. Weiterhin sollte sich dort das sogenannte Zigeunerhaus befunden haben. In etwa 400 m Entfernung sahen wir zwar einen Hügel mit einem Baum- und Buschbewuchs, aber keine mächtige Eiche.
Traute beklagte, dass sie sonst einen anderen Zugang für Horstenau wählte. Auch Horst und Lothar, die auch 2004 an der gleichen Stelle in Blüchersdorf waren, hatten einen zu weiten Bogen gewählt, der sie zur Oberförsterei führte
Die Sonne brannte zwischenzeitlich heiß vom Himmel, Erregung und Belastung waren erheblich. Ich machte mich deshalb allein auf, um den Hügel zu erkunden. Verwilderte Kirsch- und Apfelbäume, übermannshohes Buschwerk wiesen auf frühere Besiedlung. Fast wollte ich einen Freudenschrei ausstoßen, denn aus dem Buschwerk hoben sich beim Umgehen ein 1 m hoher starker Eichenstumpf und ein großer vertrockneter Ast ab. Die „Eiche“ war gefunden, aber vermutlich vor einigen Jahren abgesägt worden, wobei der Stumpf im Inneren schon Verwitterung aufwies, die Ameisen und Käfer weiter verstärkten. Ich gestikulierte und lief mit der freudigen Nachricht unserer Gruppe entgegen. Mit diesem klaren Merkmal und der Karte lag nunmehr das Dorf Horstenau förmlich vor uns. Mit dieser Genugtuung legten wir dankbar am “Zigeunerhügel“ unsere erste Rast ein. Das Lunchpaket unseres Hotels mundete uns in dieser Umgebung in besonderer Weise. Es war ein Genuss in dieser würzig riechenden Natur - das Gras war frisch gemäht - das belegte Brot, Äpfel oder Gurken zu essen, und das Mineralwasser labte uns. Trotz der Mittagshitze hielten wir uns mit Entblößungen zurück. Die Stechfliegen und Mücken begrüßten uns Spätheimkehrer in besonders intensiver Weise. Dank „Autan“ hielt sich die Herzlichkeit in Grenzen. Auch das Buschwerk und vertrocknete, harte Stängel setzten uns beim Vorwärtsgehen erheblich zu. Meine Schienbeine waren für die nächsten Tage stark ramponiert, aber in der Ausnahmesituation habe ich nichts gespürt.
Nun übernahm Elke die Lagebeschreibung. Vor uns, etwas rechts müsste der Friedhof liegen. Bei meinem ersten Eindringen in das dichte, dunkle und vom Vortag nasse Gestrüpp entdeckte ich keine Grabreste, nur alte friedhofstypische Gewächse waren vereinzelt zu sehen. Ernüchtert ging ich zur Wiese zurück, bis Traute uns rief. Sie hatte einen anderen Zugang gewählt und Reste einer Grabeinfassung gefunden. In der Nähe entdeckten wir noch weitere Einfassungsreste, sahen Efeu und Wacholder, aber nicht einen Grabstein. Unverkennbar war an vielen Stellen gegraben worden. Besonders makaber war ein Grab mit einem verrosteten Feldspaten, und daneben lagen Reste von Schädelknochen. Dieses Erlebnis ließ uns frösteln, aber wir waren bei unseren Vorfahren und hatten unseren Dank abgestattet.
Erneut lag eine weite Landschaft vor uns, durch die uns nun erst einmal Elke führte. Sie wies uns auf die große Buschgruppe, die das Anwesen von Eggers markierte. Wir passierten die Baum- und Buschgruppe von Simoneits und ehemals Wohlfeils (später soll eine Frau Böhme dort gewohnt haben.)
Nun beschleunigten sich meine Schritte, denn ich näherte mich erstmals seit reichlich 60 Jahren dem Grundstück, auf dem meine Eltern und Geschwister mit mir lebten. Vor der angrenzenden Waldkante heben sich gleichfalls hohe, dichte Büsche und Bäume ab, die alles überwuchern und ein Vordringen zur Mitte verhindern. Wir sehen auch verwilderte Apfelbäume und Sträucher von Ebereschen. Es fällt mir schwer, mit Rücksicht auf die Gruppe, diese mich gefühlsmäßig sehr bewegende Stelle schon wieder zu verlassen. Hier also haben wir fünf Kinder mit unserer Mutter gelebt, während der Vater im Krieg war. Im Oktober 1944 haben wir das Grundstück hastig verlassen, (Ich habe jetzt noch Träume, wo gepackt wird, wir es aber nicht schaffen, alles zu verstauen.) und sind in Sachsen im Ort Erlbach in einer Kammer untergekommen.
Die Zerstörung des Ortes 1945 durch die Rote Armee, die Traute teilweise erlebte, üppiger feuchter Wuchs werden bald die Ursachen sein, dass meine erste Heimat nicht mehr aufgefunden wird; es sei unsere Kinder oder Enkel wollen diese Wurzeln und Geschichten noch erleben.
Ich staune über Traute, wie sie bei diesem Wetter die Anstrengungen absolviert, sehe aber auch ihr die Freude an, uns dieses bewegende Erlebnis zu verschaffen und uns Horstenau ganz nahe zu bringen. Es ist unvergleichlich befriedigend, den Vorfahren auf diese Weise zu danken und Respekt zu zollen.
Am schattigen Rand der Baumgruppe bei Wachsmuth legen wir die nächste Rast ein. Mit Tucholsky gesprochen, lassen wir unsere Seele baumeln, blinzeln in den blauen Himmel mit immer wieder neuen, eindrucksvollen Wolken (den ostpreußischen Himmel muss man erlebt haben), nehmen die würzigen Gerüche - vielfältig, anderseits in Harmonie wie die Kräuter der Provence in uns auf. Ich summe das Lied von Paul Gerhardt „Geh aus mein Herz und suche Freud...“ vor mich hin.
Doch vieles liegt noch vor uns. Lothar findet einen Weg beim “Gehöft“ Kreuzberger zur Trasse der ehemaligen Kleinbahn. Da dort Traktoren gefahren sind, ist der Weg passierbar, aber der Damm grenzt sich zur übrigen Natur ab. Nach etwa 500 m erreichen wir eine ebene Fläche, die ehemalige Haltestation der Kleinbahn in Horstenau. Wir erkannten die Fläche vom Besuch 2004 wieder, als Elke und ich von der Oberförsterei herkommend, diese Stelle als verlandeten Dorfteich einstuften...
Nun übernahm unsere ungekrönte Dorfchefin, Traute, wieder die Führung. Wir mussten neben der ehemaligen Dorfstraße bei Korinth vorbei etwa 800 m an einem Wiesenrand gehen und langten am Grundstück bei Petereits an. Jetzt wurden Edith und Horst besonders aktiv. Sie umkurvten ihr Grundstück, als wollten sie in der nächsten Zeit mit der erneuten Urbarmachung beginnen. Das Gelände selbst war auch etwas offener, nicht so extrem zugewuchert. Horsts Augen leuchteten und wurden feucht. Auch er konnte sich nur schwer wieder losreißen, zumal er noch konkrete Kindheitserinnerungen hatte, die auch durch den möglichen intensiven Kontakt mit seiner Mutter erhalten geblieben waren.
Traute zeigte uns die Richtung, wo Metts und sie mit ihren Eltern wohnten. Eine freie Fläche markierte das Gelände der ehemaligen Dorfschule. Ich höre die Klagen meiner Schwester Gerda, die quer über die Wiesen und Felder zur Schule lief und stets mit feuchten Füßen in der Schule saß.
Bis zum alten großen Dorfteich führte unser Weg über die noch vorhandene - aber zum Teil überwucherte - Dorfstraße. Am Ufer des Teiches, der am Rand stark mit Schilf bewachsen war und Seerosen aufwies, sah man „Spuren“ von Besuchern. Kleine Feuerstellen, wie immer im Umfeld mit dem Restmüll stammten von Anglern oder Badenden. Übrigens hatten die meisten Anwesen Brunnen und kleine eigene Teiche, da das Grundwasser sehr hoch war und durch das Grabensystem reguliert werden musste. Deshalb waren die Häuser auch nicht unterkellert, sondern die Vorräte wurden in erhöhten Erdhügeln eingelagert.
Ein letzter Blick nach vorn zur Buschgruppe Koslowski, dann kehren wir um.
Von Petereits sieht man die Strasse Insterburg - Tilsit. Wir gehen über eine gemähte Wiese und kommen kurz mit einem Traktoristen ins Gespräch, der beim Heuwenden ist. Es ist doch spärlich, was an saurem Gras auf den großen Flächen zusammenkommt. Für eine ernsthafte landwirtschaftliche Nutzung müsste das Grabensystem um Horstenau wieder erneuert werden, denn die sumpfigen Abschnitte werden größer... Ein zweiter Bauer auf einem Traktor hielt uns, wenig freundlich, vom Durchgang seines Hofes mit Hinweis auf seine Hunde ab. So erreichen wir die Landstraße etwas oberhalb von Stossus.
Arvidas, unser litauische Begleiter, wartete bereits mit seinem Kleinbus; es war gegen 17 Uhr.
Waren wir glücklich über das erlebte Geschenk der äußeren Bedingungen und die Heimat verbundene Führung durch Traute. Sie ließ durch ihre Erläuterungen das Dorf regelrecht wieder erstehen und hauchte jeder Buschgruppe die zugehörige Geschichte ein.
Danke, liebe Traute, diesen Tag werde ich nie vergessen und in mir bewahren!...