Kinderwinter
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Kinderwinter - ein weißes Abenteuer
Von Gerhard Krosien
Der Winter in Memel-Schmelz war immer lang und kalt und brachte Schnee, viel Schnee! Was gab es für die Schmelzer Marjellens und Bowkes Schöneres? Die tollsten Schneeballschlachten waren an der Tagesordnung! Und wer hatte seinen Körper etwa nicht als „Adler“ in frisch gefallenen Schnee gedrückt? Jeder von uns hatte auch einen Rodelschlitten oder ein paar Tonnenbretter-Skier oder gar von irgendeinem handgefertigte „richtige“ Skier. Damit ging es wie wild den Hang „unserer“ Kiesgrube hinunter. Und zum „Schorren“ brauchte man bloß ein Endchen Eisbahn, zum Beispiel auf einem Weg. Wer Schlittschuhe hatte, sauste schon bald auf größerer Eisfläche dahin, dass es so seine Art hatte. Ganz Gewiefte zimmerten sich ein genügend breites Brett mit zwei Dachlatten darunter zusammen, schraubten ihre Schlittschuhe an den Latten - gleichsam wie Kufen - fest und stießen sich mit nagelbestückten Stöcken zu munterer Fahrt ab. Oder sie banden einen Sack an eine T-förmige Lattenkonstruktion auf ihrem Gefährt und sausten - wie die „Großen“ mit ihren Eisseglern - mit Windunterstützung über das Eis. Eine rasante Sache!
Warm anziehen musste man sich für solch winterliche Betätigungen schon. Morgens schlüpfte man in ein dickes baumwollenes Leibchen, das zwei lange Ärmel und zwei lange Beinlinge, vorn (für Bowkes) einen Schlitz und hinten eine Klappe hatte, die von großen, weißen Knöpfen am Rückenteil gehalten wurde. Über die Beine kamen lange, braune Zellwollstrümpfe, die von schwarzen Gummistrippen an der kurzen Oberhose gehalten wurden. Die Füße steckten in derben Schuhen, die bis zum Knöchel mit Lederschnürsenkeln an Haken geschnürt waren. Ein dicker Wollpullover, eine dicke, gehäkelte Wollmütze oder eine Skimütze mit Ohrschützern, ein langer, warmer Schal, ein Paar wollene „Handschkes“! Das war's. Wir waren ja abgehärtet! So ging's hinaus in den Wintertag. Mittags und abends kehrten wir dann erhitzt und mit geröteten Wangen und tropfenden Nasen heim.
Ein besonderer Spaß für uns Schmelzer Kinder war, wenn Esins Knecht mit seinem zotteligen Panjepferdchen und einem flachen Schlitten, beladen mit Milchkannen, die Straße Richtung Molkerei herunterkam. Rasch hatte sich ein langer Schwanz von Rodelschlitten mit Marjellens und Bowkes darauf an das winterliche Gefährt gehängt. Einige saßen, andere lagen, wieder andere saßen auf den Liegenden. Eine muntere, kreischende Rasselbande! Wenn es mit Schwung um die Ecke ging, hatten die letzten Schlitten meist schlechte Karten. Sie wurden durch den Schwung wie bei einem Kettenkarussell hinausgeschleudert, einige kippten dabei sogar um. Die Heruntergefallenen mussten sich dann mächtig sputen, ihren enteilenden Schlitten wieder einzuholen. Manchmal gelang das aber nicht. Dann gab's auch mal Tränen.
Einen besonderen Spaß machte sich der Esinsche Schlittenkutscher häufig – meist auf dem Rückweg mit leerem Schlitten - indem er sein zotteliges Pferdchen mit dem angehängten Rodelschlittenzug mitten über tief verschneite Äcker traben ließ, was dem Tier offensichtliche Freude bereitete. Dann stob der lockere Pulverschnee so manchem gehörig um die Ohren. Das Freudengekreische war groß! Das war die Sache allemal wert!
Ja, Winterzeit in Schmelz, das war schon was: Ein richtiges weißes Abenteuer.