Kur mit Natur
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Kur mit Natur
Von Gerhard Krosien
„Tante, warum stehst du da so rum?“, fragte ich als Achtjähriger im Götzhöfener Wald neugierig mal eine ältere Frau, die ich mit etwas hochgebundenem Rock und barfuß neben einem Baum stehen sah. „Ach weißt, Jungchen, ich steh mit meinen Klischen mang de Hemskes. Die bepuschen meine nackten Klischen. Das brennt ziemlich. Aber das is jut jejen mein Rheuma“. „Und was soll die Flasche dort neben dem Ameisenhaufen?“ „Da in de Kruck hab ich bisschen Farin (Zucker) reinjetan. Nu kriechen de Hemskes da rein und wollen dem Farin holen. Dann sind se aber jefangen. Nachher kommt dann Sprit auf die Hemskes. Wenn's mich wieder wo reißt, reibe ich mich mit der Sprit-Hemske-Tinktur ein. Dann jeht's wech“. Was die Naturschützer heute wohl zu solchem Frevel von einst sagen würden?
Von meinem Omchen weiß ich, dass sie Kalmus an Grabenrändern oder am Ufer der Schmeltelle sammelte, in kleine Stücke schnitt und dann mit Alkohol aufsetzte. Nach einiger Zeit, die nur sie genau kannte, seihte sie die Flüssigkeit ab. Dann hatte sie - wie sie zu sagen pflegte – „eine jute Medizin jejen das Reißen“. Oft habe ich mitbekommen, wie sie sich oder andere Familienglieder an den Armen, Beinen, Schulterblättern oder sonst wo damit eingerieben hat. Das roch dann eine Weile in deren Umgebung immer ganz sonderbar – nicht unangenehm. Das soll auch gewirkt haben, wie Oma und die meisten „Eingeriebenen“ später behaupteten.
Alle ihre Enkel bekamen von Oma immer wieder den Auftrag, Wermut, Schafgarbe, Holunderblüten oder -beeren, Quitschen (Ebereschen) oder anderes Kraut oder so etwas zu pflücken und es ihr zu bringen. Bald hingen die schönsten Sträuße der von uns Kindern und die von ihr selbst gesammelten Kräuter und Fruchtdolden an luftiger Stelle unter dem Dach oder an den Wänden ihres Hauses, um dort an der Luft zu trocknen. Oder sie kochte einen Saft aus den Beeren, machte Gelee daraus und bewahrte es in gut verschlossenen Gläsern in ihrer Speisekammer auf. „Für den Notfall“, hieß es dann immer. Sobald einer von uns krank wurde, hatte Oma so stets einen wirksamen Tee oder einen mit Wasser verdünnten Gesundheitstrank davon parat. Der auch jedes Mal half, ehrlich!
Wenn wir Rangen mal zu ihr „angeschettert“ kamen und über diese oder jene Verletzung oder über ein Wehwehchen klagten, sagte Oma stets bloß kurz: „Momentchen mal“. Und dann gab's bald einen von ihren Wundertees oder -getränken. Oder sie holte sich ein Messer, pflückte ein Wegerichblatt, wusch es ab und klopfte es mit dem Messergriff schön saftig weich. Dann legte sie das so behandelte Blatt zum Beispiel auf die Wunde eines ihrer „woienden“ Enkelkinder und band einfach Zwirn darum, sodass es an der kranken Stelle haften blieb. Kurz darauf ließen die Schmerzen nach, und die Heilung war dann nur noch eine Frage der Zeit.
Einer ihrer Söhne kehrte mit viel mehr Wasser als üblich im Körper aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heim. Das konnte man feststellen, indem man an beliebiger Körperstelle mit dem Finger drückte und die „Delle“ dann lange Zeit zu sehen war. Oma machte sich sogleich an seine „Kurierung“. Sie strich ihm abends Mostrich (Senf) auf den ganzen Körper, legte zusätzlich Huflattichblätter darauf und umwickelte den ganzen Mann für die Nacht mit Stoffbinden. An jedem Morgen war der Sohn schon ein bisschen dünner. Tagsüber sammelte sich das Wasser aber wieder im Körper des Mannes, sodass Oma ihre Prozedur wiederholen musste. Nach einiger Zeit hatte sie ihn jedoch so weit kuriert, dass sie ihn wieder „ihren ganz normalen Sohn“ nennen konnte.
Opa dagegen widmete sich mehr der Herstellung „geistiger Medizin“. Aus allen nur vorstellbaren Früchten setzte er Wein in grünen oder braunen Korbflaschen an. In allen nur denkbaren Räumen und Kammern gluckerte es und roch es nach Vergärung. Seine Erzeugnisse erfreuten sich später ziemlich großer Beliebtheit in der eigenen Familie, aber auch bei den Nachbarn. Bis an sein Lebensende wies ihm eine ziemlich rote Nase den Weg! Und noch zu seiner goldenen Hochzeit führte er den Kosakentanz in gekonnter Manier vor. So „fit“ war er in hohem Alter noch!
Nach allem bin ich mir heute ziemlich sicher: Früher haben die Menschen viele gute Mittel der Natur gekannt, mit denen sie sich im Krankheitsfall zu helfen und sonst gesund zu leben wussten. Natürlich gelang ihnen das nicht immer. Dann - aber nur dann! - war der Arzt gefragt! Den konnten viele sich doch auch bloß in Ausnahmefällen leisten. Es sei denn, der Arzt hatte eine besonders ausgeprägte soziale „Ader“ und half den Menschen aus Nächstenliebe. Solche Ärzte gab's damals auch!
Heute besinnen sich wieder viele Menschen auf Naturheilkräfte und gesunde Ernährung. Auch viele Ärzte, die lange Zeit ihren „schnellen Erfolg“ fast nur mit der „Chemie“ gesucht hatten. Jetzt schwören sie vielfach auf alte Hausmittelchen und homöopathische Medikamente. Sie fürchten selbst die immer länger werdende Auflistung der Nebenwirkungen von Medikamenten und geben daher oft lieber einer „sanften“ und den Patienten schonenden Wirkung von Naturprodukten den Vorzug. Aber manchmal geht's halt nicht anders als mit „schwerem Hammer“! Die Natur ist also für viele Menschen wieder „in“! Das, obwohl wir sie häufig nicht gerade zart behandeln! Müssen die Natur vielfach nicht erst Gesetze vor uns Menschen schützen? Und trotzdem lässt sie uns eigentlich nie im Stich!