Plaschken und Pleine - Gegenwart und Erinnerung
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1960 von Richard Taudien
Mädewald ist heute keine Bahnstation mehr. In dem 1939 erbauten Bahnhofsgebäude wird nur Schrankendienst gemacht. Auf der Chaussee nach Galsdon Joneiten überqueren wir die Gleise. Von rechts grüßt Paul Merkners Bahnhofsgastwirtschaft. Der Name auf dem Schild ist mit weißer Farbe überpinselt worden. Hinter der Gartenhecke taucht die Reiffeisen Meierei auf. An dem Geklapper der Milchkannen erkennen wir, dass sie auch jetzt in vollem Betrieb ist. Auf der anderen Straßenseite steht nur das Wohnhaus des Polizeimeisters Woelfert. Bald ist die Kreuzung mit der Landstraße Tilsit-Memel erreicht. Von der Drogerie Jodexnus stehen nur das Wohnhaus und der Stall. Schapeits Wirtschaft ist erhalten geblieben. Auch die Gebäude von Lehrer Schmidt früher Leitner stehen noch. Hier ist das jetztige Bezirksamt untergebracht. Launerts Haus dient wieder als Verkaufsladen. Bei Rose steht nur das Schlachthaus mit der Fleischerei, das jetzt zum Wohngebäude umgebaut worden ist.
Von der hier hochgelegten Landesstraße können wir einen Blick auf einen Teil von Pleikischken werfen. Zu sehen sind nur das Wohnhaus von Fleischermeister Gottschalk und die Gebäude von Walter und Karl Wohlgemuth. Verschwunden sind die Höfe von Lessau, R. Schukies, R. Gawehn, Balnus, E. Lorenscheit, Woischwill und viele andere. Natürlich sind auch die Baracken des weiblichen RAD-Lagers abgebrochen worden.
Unser Weg führt uns nun entlang des Landweges durch Pleine. Ein ganz ungewöhnliches Bild bietet sich uns. Uigschies' Wäldchen ist abgeholzt, nur Weiden- und Erlenstrauch wächst an seiner Stelle. Wie oft haben wir hier die ersten Erd- und Blaubeeren gepflückt! Dahinter steht Uigschies' Bauernhof, nur der Schuppen fehlt. Nahe dem Landwege stehen auch noch die Gebäude von Schulz. Nun empfängt uns eine Öde. Das ganze Land, links und rechts des Weges, ist versteppt und voller Unkraut. Auf einigen kahlen Feldern wirbelt der Wind den Sand hoch in die Luft und trägt ihn meilenweit fort. Von vielen einst stattlichen Bauernhöfen sind nur Ruinen und halbverfallene Schornsteine übrig geblieben. Sogar die Obstbäume und Zäune sind verschwunden. Nach etwa einer halben Stunde Marsch erreichen wir das Anwesen von Annus Woska; nur das Wohnhaus ist stehen geblieben. Etwas weiter auf der linken Wegseite steht noch das Wohnhaus von Bernoth. Die "Wilkenytsche" ist inzwischen viel größer geworden. Fast bis an den Landweg reicht sie heran. In jedem Winter sind hier Wölfe gesehen worden. Das angrenzende Land, bis weit hinter dem zerstörten Schulgehöft, gleicht der Sandwüste Sahara.
Die Weggabelung haben wir erreicht. Früher stand hier ein Wegweiser, der mit seinen Armen nach Plaschken, Mädewald und Szameitkehmen zeigte. Einen Umweg machend, folgen wir dem Weg nach Szameitkehmen und kommen am Friedhof vorbei. Verwüstet liegt er da, die Gräber sind alle verfallen. Die Fliederhecke wuchert über die ganze Hecke. So haben unsere Gräber wenigstens im Frühjahr ihren Blumenschmuck. Die Umfriedung und die Brunnenrohre sind entfernt und "enteignet" worden. Auch die übrigen Friedhöfe sind alle geschändet und bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Unsere zurückgebliebenen Landsleute begraben die Verstorbenen auf dem nächstgelegenen Friedhof, während die Litauer ihre Toten auf einem Friedhof in Rucken beerdigen.
Gleich in der Nähe war unser Gemeindezentrum mit dem Bürgermeister Paul Poeppel und dem Kassenrendanten Franz Kausch. Nur das Wohnhaus und der Stall von Kausch sind stehen geblieben. Weiter südlich im Felde stehen noch die Gebäude von Mitzkat und das Wohnhaus von Walter.
Halbverfallen steht noch das Spritzenhaus am Wege. Die gute alte Feuerspritze hat schon früher oft gestreikt, heute ist sie ganz ausrangiert. Dahinter ist Pollaks Wohnhaus stehen geblieben. Einige hundert Meter weiter steht noch das Wohnhaus von Heinrich Woska. Ganz erhalten sind die Wirtschaft von Staschull und Naujoks. Bei Babion steht nur das halbe Wohnhaus, bei E. Wohlgemuth nur das Wohnhaus und der Stall. Östlich Naujoks auf dem Felde von Pollack ist ein neues Gebäude erbaut und als Staats-Hühnerfarm eingerichtet. Der ein Hektar große Platz ist mit einem 2 m hohen Maschendrahtzaun umgeben worden um die etwa 2000 weißen Leghorn-Hühner vor den Füchsen aus dem nahen Torfbruch zu schützen. Außerdem steht die Farm unter dauernder Bewachung.
Auf dem "Bahnsteg" kommen wir in südlicher Richtung an Tautrims Gutshof vorbei. Nur das Wohnhaus und ein Teil des Stalls stehen noch. Petrowskis Hof ist erhalten, von August Willuhns Wirtschaft fehlt die neue Scheune. Kurz vor Pageldienen steht noch das Wohnhaus von Richard Woska.
Die ganzen Felder zwischen dem Pleiner Torfbruch und den Wirtschaften von R. Woska, Tautrim, Babion und dem Nelamischker Friedhof sind mit Gestrüpp bewachsen und voll lauter Tümpel. Hinter den vielen Wollgraskupsten spielen die Hasen Versteck. Das Herz des Jagdpächters Palm würde vor Freude springen, wenn er das sehen könnte.
Wir kommen nun wieder zum Landwege zurück. Nur die Wohnhäuser und Ställe stehen dort noch bei Goltz, Beszon-Jagst und Schlaefert. Von Uschkoreits Bauernhof ist nur das Wohnhaus übrig geblieben.
Das ist Pleine heute (Anm.: 1960). Die genannten Gebäude werden bewohnt und benutzt. Alle anderen sind in Schutt und Asche gesunken. Die jetzigen Bewohner bestellen nur einige Morgen Land um die Höfe. Der Ertrag deckt kaum den Eigenbedarf. Die übrigen Felder verkommen. Da die Entwässerungsgräben zugefallen und zugewachsen sind, ist der Boden zu naß, um mit Traktoren beackert zu werden. Das ganze Land wird von der Sowchose Szameitkehmen nur als Weideland genutzt. Doch selbst das Vieh findet nur kärgliche Nahrung.
Der Pleiner Torfbruch ist ganz verwaist. Torf wird nicht mehr gemacht. Viele Holzhäuser, die den Krieg überstanden, sind für Brennmaterial abgebrochen worden. Später wurden die Bäume abgesägt. So sind alle Tannen- und Birkenwäldchen verschwunden. Auch an den Wegen wachsen heute keine Bäume mehr.
Eine alte Memelländerin erzählt in diesem Zusammenhang folgendes Erlebnis: Einst selbst Bäuerin musste sie sich ihren Lebensunterhalt als Tagelöhnerin verdienen. Eines Tages war sie auf dem Felde mit Flachsziehen beschäftigt. Zum Mittagsmahl musste sie auf den Hof zurück. Da sieht sie, wie die Litauerin Bretter von der erst vor 10 Jahren neuerbauten Scheune abreißt und für Brennholz zerkleinert.
"Bäuerin", fragt sie, "warum nimmst du nicht den fertigen Torf aus dem Schuppen?"
"Nein, wir brennen nur Holz. Wenn der Torf im Ofen brennt, stinkt er", war die Antwort. Zuerst wurden die Schallungsbretter abgerissen, dann einzelne Balken herausgesägt, bis endlich das ganze Gebäude in sich zusammenstürzte.
Als im Oktober 1944 das Inferno des Krieges ins Memelland zog, verließen auch die Pleiner ihre Höfe und ein in Generationen zu einem ertragreichen Ackerboden kultiviertes Land. 53 Groß- und Kleinlandwirten gab der Boden die Lebensexistenz. Im Herbst zog Schlaefert mit seinem Motordreschsatz wochenlang von Hof zu Hof, um das geerntete Getreide auszudreschen. Von der Gemeinde Pleine, ohne das 1939 eingemeindete Pleikischken, sind im Kriegsjahr 1943 u. a. abgeliefert worden: rund 700 dz Roggen, etwa 750 dz Kartoffeln, 470 Schweine im gewicht von 100-150 kg. Hinzu kommt natürlich noch der Eigenverbrauch für die 326 Einwohner. Bei der letzten Viehzählung im Frühjahr 1944 wurden 207 Stück Rinder gezählt, davon 133 Milchkühe. Die hier gemachten Angaben sind den geretteten Hofkarten entnommen.
Nach dem Einmarsch der Litauer im Jahre 1923 erhielt Pleine den litauischen Namen Naujapieviai, d. h. "Neue Wiesen", eine Prophezeihung, die nach knapp 25 jahren so furchtbar in Erfüllung gegangen ist.
Im Kirchdorf Plaschken sieht es viel freundlicher aus. Wohl sind auch hier einige Bauernhöfe verschwunden. Aber das ganze Land von der Peiner Grenze bis hinunter zur Jäge wird von der Plaschker Sowchose mit Traktoren beackert, besät und abgeerntet. Nur einige niedrige Felder sind mit Strauch bewachsen.
Im oberen Ortsteil sind die Wirtschaften von Christoph Kalnischkies, David Kalnischkies, Alisat und August erhalten geblieben. Augusts Mühle ist außer Betrieb. Dort wo der Landweg die Chausee erreicht, stehen rechts Broszeits Wohnhaus und links das Arzthaus und Schuppen von Dr. Meyer. Ein wenig weiter, hart an der Straße, steht Paaps kleines weißes Häuschen.
Auf der Chausee, an der noch alle Bäume stehen, kommen wir zum unteren Plaschken. Languths Bauernhof schaut nach Bersteningken herüber. Eine Schweinemästerei ist da eingerichtet. Bei Auto-Swars steht nur das Wohnhaus. Die Gebäude am verlassenen Marktplatz sind stehen geblieben und zwar: Koschubs, Winkler/Grabautski (halbverfallen), Kroll, Jakubeit, Peschel und Kanschat. Bei Kanschats ist wieder ein Kolonialwarenladen eingerichtet, im Saal finden Versammlungen und Tanzabende statt.
Über die Jäge führt noch die alte Brücke. Die weiten Wiesen liefern auch heute kraftvolles Viehfutter. Verschiedene Sowchosen ernten hier das Heu für die Winterfüttterung, oder sie weiden schon im Sommer ihr Vieh. Die Wiesendörfer von Warrischken bis Lasdehnen sind verschwunden. Jetzt fließt die Jäge ruhig in ihrem Bett. Zur Zeit des Hochwassers tritt sie aber über die Ufer und überschwemmt die ganzen Wiesen. Das Wasser vereint sich dann mit dem Memel- und Rußstrom. Ein großer See ist so entstanden, der von Karzewischken bis nach Pogegen und Tilsit reicht. Im April 1958 hat das Hochwasser in Plaschken wohl den höchsten Stand erreicht. Meterhoch stand das Wasser in den Häusern. Selbst die hohe "Kircheninsel" wurde von den Fluten überspült. Russische Pioniere waren drei Tage lang eingesetzt, um das lebende Inventar zu bergen.
Da steht Palms Gutshof mit seinen drei Gebäuden, nur die Schmiede und die Mietshäuser sind abgebrochen. Bei Batschkus steht dagegen nur das Wohnhaus und bei Gober nur der Stall, der jetzt als Kälberstall dient. Der Schuneller Rabenwald ist restlos abgeholzt, der Karalischker Friedhof verwüstet. Zwischen dem Friedhof und dem Pfarrweg sind drei Ställe und zwei Scheunen von der Sowchose neu erbaut worden. Auf der Höhe steht ganz einsam das Haus von Spingat. Auch das 1935 angepflanzte Wäldchen auf dem Pfarrland ist fast ausgehauen.
Den Pfarrweg entlang wandern wir zur "Kircheninsel" zurück. Rechts stehen der Kirchkrug (Anm.: Gaststätte) und der Stall von Kroll. Das Pfarrhaus, der Stall und die Scheune sind stehen geblieben. Die Präzentorschule dient wieder der Kindererziehung. Die Gräber auf dem südlichen Teil des Kirschhofs sind von Traktoren und LKW plattgefahren. Auf der nördlichen Seite wachsen aus den Gräbern schon armdicke Bäumchen. Zwischen Kirchhof und Pfarrhaus liegen noch der 3 m lange und 1 m dicke Stein. 1939 wurde er dorthingebracht. Den Gefallenen von 1914/18 sollte er als Denkmal gesetzt werden. Bei Ausbruch des letzten Krieges wurde die Ausführung auf einen späteren Termin gelegt. Welche Verwendung er wohl noch einmal findet? In dem angefahrenen Sandhügel werden jetzt Kartoffeln eingemietet.
Das äußere Bild der Kirche hat sich kaum verändert. Der hohe Turm mit Kugel und Kreuz weist immer noch in den Himmel. Die Glocken sind verschwunden, vom Turmdach etliche Schieferziegel heruntergefallen. Der Innenraum dient heute der Sowchose als Getreidespeicher. 44 Jahre hindurch ist in ihr gebetet und Gottes Wort verkündet worden. Jetzt sind die Bänke ausgeräumt. Beiderseits des Ganges hat man viele meterhohe Fächer errichtet. In ihnen werden das Getreide und Mehl gelagert. Kanzel, Taufstein, Ofen und Orgel sind entfernt. Der Altarblock steht, wird aber oft mit Getreide überschüttet. Über der Wölbung steht auch heute noch: Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden.
Erinnerungsbilder ziehen wie in einem Film vorüber. Unter dem Geläut der beiden Glocken wurden wir zur Konfirmation in die Kirche geführt. Der Posaunenchor unter der Leitung von Franz Kausch spielt. WIr knien am Altar und erhalten von unserem Superintendanten Obereigner den Segen. Später sitzen wir im Gestühl und lauschen einer Predigt des Pfarrers M. Lokies. Weitere Bilder tauchen auf mit den beiden letzten Pfarrern Doligkeit und Kibelka.
Die Rückfahrt treten wir von Stonischken aus an. der Bahnhof ist noch der alte. Alle Verkaufsbuden sind abgebrochen. Die Post ist in demselben Gebäude untergebracht wie früher. Hier im Ort befindet sich auch eine ärztliche Ambulanz, die für alle umliegenden Dörfer zuständig ist. Grabautzkis Mahl- und Schneidemühle ist vor einigen Jahren ausgebrannt, inzwischen aber repariert und wieder in Betrieb genommen worden.
Die Heimat trägt heute ein anderes Gesicht. Ein schönes Blumengärtchen vor dem Hause war eine Zierde für jeden Memelländer, ein prächtiger Obstgarten der Stolz seines Besitzers. Heute kennt man in Pleine und Plaschken beides nicht mehr.
Quelle: Memeler Dampfboot Nr. 7 vom 5. April 1960